Rhiannons Geschichte: 31. Kapitel
(von Jennifer Fausek)
Shakara hielt ihr Versprechen. Ein Bote der Anla'shok besorgte Rhiannon die Sachen, die sie haben wollte. Sogar Zora wurde zu ihr nach Tuzanor gebracht. Turval hatte Ria erlaubt, ihr Kind bei sich zu haben, solange ihr Fuß noch nicht ausgeheilt war und sie auch noch nicht wusste, ob sie bleiben oder gehen wollte.
Shakara selbst hatte sie aber nicht mehr zu Gesicht bekommen, genau, wie sie es gesagt hatte. Und Ria suchte auch nicht nach der Kriegerin.
Nachdem sie fast drei volle Tage im Bett gelegen war, fand Rhiannon es jetzt schön, dass sie mit den Krücken zumindest im - ziemlich leeren - Krankenhaus herumlaufen konnte. Ihr Fieber war ganz weg, sie hatte nur noch etwas erhöhte Temperatur.
Ria bekam sehr oft Besuch von Sech Turval. Sie mochte ihn, denn jetzt, da sie die Chance hatte, ihn besser kennenzulernen, merkte sie, dass er einen ausgeprägten Sinn für Humor hatte, außerdem mochte er kleine Kinder gerne. Und seine Fröhlichkeit und Freundlichkeit waren zweifellos aufrichtig.
Durch die Krankheit hatte Rhiannon ungewohnt viel Zeit, um nachzudenken. Und im Moment ging ihr besonders viel durch den Kopf, und sie hatte auch dementsprechend viele Fragen.
"Warum haben Sie zuerst zu mir gesagt, ich solle gehen und mich dann doch einem Test unterzogen?" fragte Ria Turval, als er sie wieder einmal besuchte.
Turval sah lächelnd auf die kleine Zora hinab, die am Boden ganz in seiner Nähe spielte. "Du hast zuerst gesagt, Delenn habe dich geschickt. Zu den Anla'shok wird aber niemand geschickt, wir sind alle freiwillig hier." Er stockte, das Lächeln verschwand. Er blickte nun zu Rhiannon. "Du solltest nur hier bleiben, wenn du dir sicher bist, dass die Anla'shok der Weg deines Herzens sind, nicht weil du Delenn so verletzen willst. Überleg dir deine Entscheidung bitte sehr gut. Denn wenn du erst einmal bei den Anla'shok bist, kannst du dich ohne triftigen Grund nicht mehr so leicht deiner Verpflichtung und der Verantwortung entziehen, nur weil sie dir unbequem ist. Du kannst dann nicht einfach gehen, nur weil du keine Lust mehr hast. Es gibt nur wenige Leute, die die Anla'shok wieder verlassen, bevor sie sterben."
Rhiannons Gesicht verfinsterte sich. "Ich denke nicht, dass es Delenn kümmert, was ich tue oder nicht tue, also kann ich sie auch nicht verletzen. Sie war ja nicht einmal hier, um zu sehen, wie es mir geht."
"Du irrst dich", widersprach Turval. "Sie wollte dich sehen."
"Und warum hat sie dann nicht mit mir geredet oder mir zumindest eine Nachricht geschickt?"
"Weil ich gesagt habe, dass es so besser ist."
"Wie bitte?"
"Sieh mal." Turval seufzte. "Du warst - und bist es vermutlich immer noch - sehr böse auf Delenn. Und jetzt brauchst du Zeit und auch Abstand, um dich wieder zu beruhigen. Und hier, alleine, hast du die Gelegenheit dazu. Und wenn du bereit bist, wirst du zu Delenn gehen und mit ihr reden."
"Wieso sollte ich das tun?" brummte Ria. "Es kümmert sie offenbar nicht, was aus mir wird. Sie hat mich von Anfang an nur ausgenutzt."
"Du weißt genau, dass das nicht wahr ist", sagte Turval missbilligend. "Wenn das der Fall wäre, hätte Delenn dich niemals in ihren Clan aufgenommen, sondern dich der Kriegerkaste überlassen, sobald du Novizin geworden warst."
Rhiannon musste zugeben, dass er damit recht hatte. "Und warum hat sie dann so lange geschwiegen?"
"Das soll sie dir zu gegebener Zeit selbst erklären."
Ria kniff die Augen zusammen. "Sie scheinen Delenn ja gut zu kennen."
Turval nickte. "Sie war vor etwa zwanzig Jahren als Kind meine Schülerin. Sie war damals in meiner Meditationsklasse. Das war kurz bevor ich zu den Anla'shok gegangen bin. Und sie hat dich wirklich gern, glaub mir. Du bist für sie wie ein eigenes Kind."
Ria schwieg lange und wechselte das Thema. "Es gibt noch etwas, das mich interessieren würde: warum hat eine so wunderschöne und friedliche Stadt wie diese hier einen so düsteren Namen wie Tuzanor, 'Stadt des Kummers'?"
Turval wurde plötzlich sehr ernst. "In alter Zeit, vor mehr als tausend Jahren, als Minbari noch gegen Minbari kämpften, sind in einer besonders brutalen Schlacht an nur einem Tag mehr als eine Million Minbari und zwar Männer, Frauen und Kinder ums Leben gekommen. Das hat die beiden kriegführenden Parteien so erschreckt, dass sie nach einer friedlichen Lösung für ihre Probleme gesucht haben. Tuzanor wurde im Gedenken daran als Ort den Friedens und des Heilens erbaut.
Rhiannon nahm Zora hoch, spielte mit ihr und kitzelte sie am Bauch. Die Kleine gluckste zufrieden. "Das Wort 'Tuzanor' stammt aus der religiösen Kaste, Nas'en-Dialekt, nicht wahr?"
Turval nickte. "Stimmt. Tuzanor gilt als heiliger Ort, deshalb kommen auch so viele Pilgerreisende hier her."
"Aber ich habe in der Stadt kaum Hotels gesehen."
"Die sind auch nicht nötig", entgegnete der Anla'shok. "Die Reisenden werden von den ansässigen Familien gerne für die Dauer der Pilgerfahrt aufgenommen." Er lächelte. Er schien sich an etwas zu erinnern. "Es heißt übrigens, Tuzanor sei Valens Lieblingsort auf Minbar gewesen."
"Was ich gut nachvollziehen kann."
"Und es gibt auch eine Legende", fuhr Turval fort. "Sie besagt, dass in der Stadt des Kummers zu träumen bedeutet, von einer besseren Zukunft zu träumen."
Die Schatten machten sich daran, Minbar Stück für Stück zu zerstören... Ria schauderte, als sie an den furchtbaren Traum dachte, den sie in der ersten Nacht hier in Tuzanor gehabt hatte. Sie verzog unwillkürlich das Gesicht.
Turval bemerkte es. "Was ist los?"
"Es ist nichts, nur..." Sie zögerte. "Ich habe mich eben an den Traum erinnert, den ich in der Nacht vor dem Test gehabt habe. Es ging dabei um die Schatten... Ich musste hilflos dabei zusehen, wie sie Minbar vernichten."
"So." Er bedachte sie mit einem Blick, den sie nicht zu deuten vermochte.
"Und was halten die Leute von Tuzanor davon, dass bei ihrer heiligen Stadt eine Militärbasis liegt?" fragte Rhiannon schnell, als ihr die Situation unangenehm wurde. "Gibt es da Probleme?"
Turval schüttelte den Kopf. "Nicht mit der Bevölkerung von Tuzanor. Aber es gibt durchaus einige Mitglieder der Kriegerkaste, die nicht damit einverstanden sind, dass die Anla'shok an einem heiligen Ort wie diesem hier ausgebildet werden. Sie denken, hier können sie nicht lernen zu kämpfen."
Rhiannon nickte verstehend. Die Anla'shok gehörten automatisch zur Kriegerkaste, was aber nicht bedeutete, dass sie auch in die Kriegerkaste hineingeboren waren. Turval war ein gutes Beispiel dafür. Jetzt war er zwar ein Anla'shok, aber er stammte eigentlich aus der Glaubenskaste.
"Dabei vergisst die Kriegerkaste jedoch, dass Kämpfen nur ein geringer Teil unserer Tätigkeit ist" sagte Turval weiters. "Und es könnte ihnen doch eigentlich egal sein. Uns Anla'shok wird ohnehin keine Achtung entgegengebracht oder Dank für unsere Leistungen." In seiner Stimme klang zu Rias Erstaunen keine Bitterkeit oder Ärger mit, sondern nur Gleichmut.
"Weswegen?"
Er machte eine Geste, die dem menschlichen Schulterzucken gleichkam. "Wir sind für alle Augen unsichtbar. Deshalb bekommen wir die Aufträge, die niemand sonst haben will, weil sie zu gefährlich oder unbedeutend scheinen. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich bin gerne ein Anla'shok. Und schließlich bin ich hier, weil ich denke, dass es richtig ist, nicht weil ich mir Ruhm erwarte."
Du musst Dinge tun, weil du denkst, es ist das Richtige... erinnerte sich Rhiannon an Satai Jenimers Worte und lächelte dünn. "Der Gewählte hat etwas Ähnliches auch schon zu mir gesagt."
"Das überrascht mich nicht", entgegnete Turval. "Satai Jenimer ist das provisorische Oberhaupt der Anla'shok."
Sie sah ihn erstaunt an. "Das hat Delenn mir nicht erzählt."
Eine Zeit lang war es still.
"Nochmals zurück zum Test..." brach Ria dann das Schweigen und setzte Zora wieder auf den Boden. "Ich hätte dabei sterben können."
"Ja, ich weiß. Andernfalls wäre die Prüfung aber auch sinnlos gewesen."
Sie sah Turval vorwurfsvoll an. "Das begreife ich nicht ganz. Es hätte doch bestimmt einen weniger gefährlicheren Weg gegeben, um mich zu testen. Mein Tod wäre völlig sinnlos gewesen, wäre ich wirklich gestorben."
Turval schüttelte den Kopf leicht. "Der Tod ist niemals sinnlos, wenn du bei etwas stirbst, das du aus ganzem Herzen und aus voller Überzeugung tust."
"Und woher wollen Sie wissen, dass ich voll und ganz bei der Sache war?"
"Du hättest bestimmt nicht dein Leben riskiert, wenn das nicht der Fall gewesen wäre. Du wusstest ja um die Gefahr."
Rhiannon musste zugeben, dass er nicht ganz unrecht hatte.
Da es ihr wieder gut ging - abgesehen von dem gebrochenen Knöchel - durfte Rhiannon die Krankenstation verlassen, sobald ihr Fieber weg war und in einen der vielen ungenutzten Räume in den Baracken der Anla'shok ziehen und sich - bis auf ein paar Ausnahmen - frei bewegen.
Die Anla'shok - selbst die, die in Ausbildung waren - hatten jeder einen Raum, der in Bade- Schlaf- und Wohnzimmer unterteilt war, wie es Ria von Yedor her kannte. Nur waren diese Räume kaum halb so groß wie die, die Rhiannon bei Delenn bewohnt hatte.
Die meisten Anla'shok beäugten Ria skeptisch, denn viele von ihnen hatten noch nie zuvor einen Menschen gesehen, oder diejenigen, die doch schon Erfahrungen mit Menschen gemacht hatten, hatten oftmals nicht gerade die besten Erinnerungen daran.
Es gab nur eine Handvoll Auszubildende, die offenbar nicht so genau wussten, was sie von Ria halten sollten und die auch nicht mit ihr sprachen.
Wenn Rhiannon gedacht hatte, die Anla'shok würden ein typisch militärisches Training durchlaufen, zu dem auch Drill und Schikanen gehören, so sollte sie sich noch nie so getäuscht haben. Sicher, die Ausbildung war sehr hart - das musste sie auch sein - aber die Rekruten und Rekrutinnen brauchten nicht jeden Morgen zum Appell anzutreten, und es gab auch keinen Zapfenstreich.
Außerdem lernten die Anla'shok-im-Training nicht nur militärische Fähigkeiten und Strategie, Dinge wie Meditation und Fremdsprachen gehörten ebenfalls zum Unterricht.
Ganz genau konnte Ria aber nicht sagen, was nun alles zur Ausbildung der Anla'shok gehörte. Sie durfte nur bei sehr wenigen Übungen zusehen, denn das Training war nicht für die Augen Außenstehender bestimmt, auch nicht für diejenigen, die vielleicht selbst einmal dazugehören würden.
Rhiannon erfuhr das meiste, was sie über die Anla'shok wissen wollte, von Sech Turval und den wenigen Aufzeichnungen, die sie lesen durfte.
Nach und nach gewöhnten sich die Anla'shok daran, dass jetzt ein Mensch bei ihnen war. Manche, vor allem die Älteren sahen es nicht gerne, doch einige der Jüngeren hatten hin und wieder ein freundliches Wort für sie übrig.
Inzwischen war sich Ria gar nicht mehr so sicher, ob sie wirklich nach Tuzanor gehörte. Ihr war klar geworden, was für einen bedeutenden Schritt sie im Begriff war zu tun. Insofern war es ganz gut, dass sie wegen ihres gebrochenen Knöchels gezwungen war, untätig herumzusitzen, so hatte sie genügend Zeit um über alles nachzudenken.
Andererseits, trotz der Zweifel fühlte sich Rhiannon mit den Anla'shok auf eine Art und Weise verbunden, die sie noch nie zuvor erlebt hatte und die sie nicht verstehen konnte. Je länger sie bei ihnen war, desto mehr kam es ihr so vor, als hätte sie nach langer, langer Zeit endlich nach Hause gefunden.
Ria hatte von einigen Anla'shok erfahren, dass sie sich selbst auch 'Armee des Lichts' nannten und dass sie glücklich mit dem waren, was sie taten, auch wenn es von niemandem honoriert wurde.
Als sie wieder einmal durch den kleinen Tempelgarten spazierten, fragte Rhiannon Turval, welchen Sinn das alles denn hatte.
"Es spielt keine Rolle", antwortete er ihr. "Wir selbst sind es, die unserem Leben einen Sinn geben, niemand sonst. Und dabei kommt es nicht darauf an, wie lange unser Leben dauert. Und gerade weil wir nicht wissen können, wie lange wir noch leben, sollten wir jeden Tag so leben als wäre es unser letzter."
Rhiannon verneigte sich, so gut es mit den Krücken eben ging. "Jetzt reden Sie fast wie ein Mensch", meinte sie.
Turval sah sie überrascht an. Er wusste offenbar nicht, was er von dieser Bemerkung halten sollte. "Nun, unsere Völker scheinen wohl doch mehr gemeinsam zu haben, als wir denken." Er wechselte das Thema. "In einigen Tagen kommt der Hartverband doch weg... Hast du dich schon entschieden, was du tun willst?"
"Ja", entgegnete Ria, während sie sich mit ihren Krücken vorwärts schwang. "Wenn ich darf, werde ich bleiben." Etwas verunsichert fügte sie hinzu: "Sie haben doch gesagt, ich kann bleiben, wenn ich will."
"Ja, in der Tat." Turval ging langsam neben ihr her. "Ich werde mein Versprechen nicht brechen. Du kannst bleiben. Aber deine Tochter wirst du vorläufig nach Yedor zurückschicken müssen. Erst nach Beendigung deiner Ausbildung kannst du sie dann hierher mitnehmen, wenn du das willst."
"Ja, in Ordnung, wenn es denn sein muss. Heilerin Rakall kann mein Kind nach Yedor bringen, wenn sie hierher kommt, um mir den Hartverband abzunehmen."
Rhiannon war wirklich froh, als sie einige Tage später den lästigen 'Gips' endlich los wurde. Sie war es nicht gewohnt, dermaßen eingeschränkt zu sein - nicht einmal während ihrer Schwangerschaft war es so extrem gewesen - denn sie war noch nie zuvor ernsthaft krank oder verletzt gewesen, abgesehen von akuter Unterernährung während der Flucht im Krieg gegen die Minbari und der ersten Zeit in den Flüchtlingslagern.
Drei Wochen hatte Ria den Hartverband tragen müssen. Dank der fortschrittlichen minbarischen Medizin nur drei Wochen, aber das war wirklich lange genug gewesen.
Allerdings hatte die Bestrahlungstherapie, die diese beschleunigte Knochenheilung möglich machte, auch eine nachteilige Wirkung. Das Kalzium, das für die Regenerierung des Bruches benötigt wurde, wurde noch schneller verbraucht, als wenn die Knochen 'natürlich' zusammengewachsen wären.
In manchen Fällen konnte es sogar zu einem Kalziummangel kommen. Um dem vorzubeugen, hatte Rhiannon jede Menge Milch getrunken, die speziell für sie besorgt worden war.
Sehr behutsam machte Rhiannon ihre ersten Schritte ohne den Hartverband. Es fühlte sich seltsam an, aber der Fuß hielt die Belastung aus und tat auch nicht weh.
"Wirst du mit mir kommen?" fragte Rakall, als sie dabei zusah, wie Ria durch den Raum ging, zuerst ein wenig humpelnd, allmählich sicherer.
Rhiannon schüttelte verbissen den Kopf. "Nein, ich werde hier bleiben und eine Anla'shok werden. Ich gehöre hier her. Aber bitte nimm Zora mit, und bringe sie zu Delenn. Sie kann nicht bei mir bleiben."
"Mach ich." Die Heilerin untersuchte Ria noch ein letztes Mal und war zufrieden. Vom Stich der Desh'kar war nichts mehr zu sehen, und der Knöchel war auch in Ordnung.
"Ich denke, du bist wieder gesund", sagte die Heilerin schließlich.
Ria sah sie traurig an. "Danke für alles, was du für mich getan hast."
"Schon gut."
"Und sag Delenn..." Rhiannon zögerte. "Sag ihr, dass es mir gut geht."
"Das solltest du ihr selber sagen."
"Ich kann nicht."
"Na schön." Rakall seufzte. "Ich werde es ihr ausrichten."
"Ich danke dir."
Ria und Rakall verabschiedeten sich voneinander, und die Heilerin verließ Tuzanor kurz darauf mit Zora.
Fortsetzung: Kapitel 32
Jennifer Fausek
17.09.2002
Website von Jennifer Fausek
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