Rhiannons Geschichte (2. Band): 34. Kapitel
(von Jennifer Fausek)
Rhiannon hatte ein ungutes Gefühl, als Sinclair sie zu sich rufen ließ. Es gefiel ihr nicht, dass sie mitten aus dem Unterricht geholt wurde. Wenn es so dringend war, dass es nicht einmal eine halbe Stunde warten konnte, dann bedeutete das bestimmt nichts Gutes.
Im Konferenzraum befand sich inzwischen ein großer runder Tisch mit Computerterminals, um den einige Stühle standen. Sonst gab es hier aber nichts weiter.
Als Ria das Besprechungszimmer betrat, wirkte Sinclair sehr ernst, ja sichtlich betroffen. Turval waren ebenfalls anwesend, und auch er schien bedrückt zu sein.
Das nette ,Hallo' zur Begrüßung blieb Rhiannon im Hals stecken. Da die anderen nicht lächelten, verblasste auch ihr Lächeln, das sie aufgesetzt hatte.
"Bitte komm doch, und nimm Platz", sagte Sinclair und deutete auf einen der Stühle am Konferenztisch.
"Was ist los?" fragte Rhiannon mulmig, während sie sich langsam setzte. Sie hielt sich mit den Händen am Tisch fest.
Sinclair und Turval blieben stehen.
"Es hat einen Angriff der Schatten auf Arisia III gegeben. Die ganze Kolonie wurde zerstört. Die Ermittlungsteams der Erde halten diesen Angriff allerdings für einen tragischen Unfall", erklärte Sinclair sanft.
Er hatte schon öfters Leuten sagen müssen, dass ihr Mann oder ihre Frau getötet worden war. Aber die richtigen Worte zu finden war jedesmal wieder schwer. "Es tut mir Leid, Ria, aber Will ist bei diesem Angriff ums Leben gekommen."
"Was?"
Rhiannons Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Bei den letzten Worten war sie sehr blass geworden. Ein Glück, dass sie bereits saß. Sie war bis ins Mark betäubt.
Sinclair drückte behutsam ihre Hand. "Wir hätten nie gedacht, dass die Schatten es wagen würden, eine Kolonie der Erde anzugreifen..."
"Wo ist Wills Leichnam?" hörte sie sich wie aus weiter Ferne fragen. War das wirklich ihre Stimme, die jetzt so ruhig und gefasst klang? "Ich will ihn sehen."
"Es tut mir Leid", sagte Sinclair leise und sanft. "Der Körper musste auf Arisia III zurückgelassen werden. Es gibt keine Möglichkeit, ihn zu finden."
Also konnte sie nicht einmal richtig von ihrem Mann Abschied nehmen.
Doch sie war noch zu betäubt von dem Schock, um wütend oder entsetzt darüber sein zu können. Sie war im Moment zu überhaupt keiner Reaktion fähig.
"Ich will, dass heute abend eine Trauerfeier stattfindet", stammelte Rhiannon. "Dann möchte ich sieben Tage lang Shive sitzen."
"Wenn du willst, kümmere ich mich um die Vorbereitungen", bot Sinclair behutsam an. "Und wenn du willst teile ich es auch den Rangers mit."
Ria fühlte, wie sie nickte. Sie tat das ganz automatisch, ohne wirklich zu verstehen, was Ranger Eins zu ihr gesagt hatte.
"Komm, ich bringe dich zu deinen Räumen." Turval legte ihr sanft den Arm um die Schultern.
Rhiannon ließ sich widerstandslos von ihm wegbringen. Er blieb bei ihr, damit sie jetzt nicht alleine war. Er sorgte dafür, dass sie sich wenig ausruhte.
Ria schlief zwei Stunden lang und träumte dabei sehr intensiv.
Von den Schatten.
Von William, der nun tot war und ganz allein auf dem weit entfernten Planeten hatte zurückbleiben müssen.
Und von den Vorlonen.
Als Rhiannon wieder erwachte, war sie immer noch nicht in der Lage, Trauer oder etwas in der Art zu empfinden. Sie fühlte sich nur furchtbar ausgelaugt und zerschlagen.
Als am Abend die Dämmerung einsetzte, gab es eine symbolische Verbrennung. Bei den Minbari wurden Tote immer verbrannt.
Da es keinen Körper gab, der bestattet werden konnte, wurden all die Kleidungsstücke dem Feuer übergeben, die William auf Minbar zurückgelassen hatte, und auch einige andere persönliche Gegenstände.
Während der gesamten Totenfeier war Ria wie versteinert. Es fiel ihr überaus schwer, sich vorzustellen, dass ihr Mann wirklich tot war, weil sie seinen Leichnam nicht sehen konnte.
Und doch war da diese schreckliche Gewissheit.
Das schlimmste für Rhiannon war, ihrer Tochter sagen zu müssen, dass ihr Vater tot war. Zora war noch zu klein, um es verstehen zu können, und Ria konnte es ja selbst kaum glauben.
Die ganze Zeit über hatte Rhiannon nicht geweint. Weder als sie die Besitztümer ihres Mannes den Flammen übergeben hatte, noch als sie sich von ihm verabschiedet hatte.
Aber als sie dann ganz alleine in ihrem breiten Bett lag, wurde ihr plötzlich überdeutlich bewusst, dass sie nie mehr neben Will erwachen oder seine Wärme spüren würde.
Da rannen ihr mit einem Mal die Tränen über das Gesicht. Sie ließ ihnen freien Lauf und unternahm nichts um sie zu unterdrücken. Sie weinte, bis sie nicht mehr konnte.
Jemand öffnete die Tür. Ria sah auf und erblickte Zora, die im Durchgang zum Schlafzimmer stehengeblieben war. Rhiannon wischte sich die Nässe aus dem Gesicht.
"Mama, kann ich bei dir bleiben?" fragte Zora vorsichtig.
"Aber natürlich, Mäuschen." Ria streckte ihrer kleinen Tochter die Arme entgegen. Zora kam daraufhin ins Bett gekrabbelt.
Sie sah ihre Mutter irritiert an, denn sie hatte sie noch nie zuvor weinen gesehen. "Warum weinst du, Mama?"
Rhiannon drückte den Kopf ihres Kindes behutsam an ihre Brust und streichelte Zora sanft übers Haar. "Weil ich sehr, sehr traurig bin, mein Mäuschen."
"Wann kommt Papa wieder?"
"Papa kommt nicht wieder", antwortete Ria leise. Sie erinnerte sich daran, dass die Minbari sagten, dass kein Abschied für immer war. "Ich habe es dir erklärt."
"Ja." Zora sah sie groß an. "Werden wir ihn irgendwann wiedersehen?"
Rhiannon atmete tief durch, um zu verhindern, dass ihr wieder die Tränen kamen. "Was denkst du denn?"
Zora runzelte die Stirn, als sie ernsthaft nachdachte. "Ich habe gehört, wie Sech Turval gesagt hat: ,Alle guten Wünsche mögen dich begleiten, William, auf dass wir uns wiedersehen...' Er denkt also, dass wir Papa wiedersehen werden."
Sie schien mit dieser Erklärung zufrieden zu sein. "Dann musst du also auch nicht traurig sein, Mama."
Ria musste lachen, und konnte dabei ein Schluchzen nicht ganz unterdrücken. Die Kleine bekam offenbar mehr mit, als sie gedacht hatte.
"Komm, schlaf jetzt." Rhiannon drückte Zora fester an sich und küsste sie aufs Haar. "Morgen kannst du wieder mit zu den Anla'Shok kommen. Du kannst die ganze nächste Woche bei mir im Lager bleiben."
"Au ja."
Gleich nach dem Frühstück flog Rhiannon mit ihrem Kind nach Tuzanor. Sie wollte die sieben Tage dauernde Trauerzeit, die sogenannte Shive, dort verbringen.
Eigentlich war Ria Atheistin, aber da ihr Vater jüdischen Glaubens gewesen war, hatte sie doch einige Traditionen übernommen.
Sie verhängte alle Spiegel in ihrem Zimmer. Sie flocht ihr Haar nicht, und sie trug außerdem keine Schuhe. Alle Eitelkeiten sollten in der Trauerzeit abgelegt werden.
Eine Woche lang würde Rhiannon nicht unterrichten. Statt dessen kochte sie zusammen mit den Bediensteten sehr viel, und sie teilte das Essen mit den Freunden und Bekannten, die kamen, um mit ihr zu trauern.
Sie tauschte mit ihnen Erinnerungen aus und weinte und lachte mit ihnen. Am Ende sollte kein unbewältigter Schmerz oder gar Zorn zurückbleiben.
Ria dachte in jenen Tagen liebevoll an Will und war dankbar für die Zeit, die sie zusammen hatten verleben können. Sie wollte ihn in guter Erinnerung behalten und nicht mit Wehmut an ihn zurückdenken.
Zora verstand das Verhalten der Erwachsenen nicht, aber sie freute sich über das reichliche und gute Essen, das ihre Mutter und die Angestellten kochten. So viel gab es sonst nie, vor allem nicht eine so große Auswahl.
Zora hielt sich außerdem ohnehin sehr gerne in der Anla'Shok-Basis auf. Für sie war es ein einziger großer Abenteuerspielplatz.
Sie liebte es, sich in den Bereichen für das Überwachungstraining zu verstecken oder in den Hindernisparkuren herumzuklettern.
Und obwohl sie wusste, dass ihrer Mutter das gar nicht gefiel, sah sie auch gerne beim Denn'bok-Training zu.
Allerdings hatte die Kleine nicht vergessen, dass Ria ihr schon des öfteren eingeschärft hatte, dass sie sich von den Kampfstäben fernhalten sollte, weil sie sehr gefährlich waren.
Rhiannon war es nicht immer recht, dass ihre kleine Tochter schon so selbständig war und in der Anla'Shok-Basis einfach verschwand, wenn sie Lust dazu hatte.
Die Kleine dann suchen zu wollen war ein völlig sinnloses Unterfangen, denn sie konnte in dem Fall praktisch überall sein. Zora tauchte meistens erst zur Essenszeit wieder auf, oder wenn es an der Zeit war nach Hause zu gehen.
Ria wunderte sich immer wieder darüber, woher das Kind wusste, wann es etwas zu Essen gab oder sie wieder nach Hause mussten. Sie konnte schließlich die Uhr noch nicht lesen. Doch Zora kam immer rechtzeitig zurück, auch ohne, dass sie gerufen werden musste.
Rhiannon bewirtete ihre Gäste in einem der Aufenthaltsräume im Schulungs- und Bürogebäude. Hier herrschte eine gemütliche Atmosphäre.
Ihre Jacke mit dem Denn'bok darin hatte sie auf eine Theke gelegt, wo sie auch die Getränke und das vorbereitete Essen hinstellte, bis es verteilt wurde.
Im Moment waren nicht viele Leute in dem kleinen Saal. Ria achtete nicht darauf, als die Tür aufging und jemand eintrat. Schließlich gingen hier ständig Leute ein und aus.
Zora hingegen bemerkte den Neuankömmling sofort.
"Meister Duhran!"
Sie lief zu ihm und verneigte sich vor ihm. Sie mochte den Meisterlehrer, weil er besonders nachsichtig mit ihr war und sie nicht wegschickte, wenn er sie wieder einmal dabei erwischte, wie sie heimlich beim Training zusah.
Außerdem hatte er oft etwas Süßes für sie.
"Hallo Zorann." Er hob sie hoch, als sie ihm vertraulich die Arme entgegenstreckte. "Wo ist denn deine Mutter?"
"Dort drüben." Das Kind drehte sich und deutete in die entsprechende Richtung. Ria brachte ihrem Freund Hadenn gerade einen Teller mit Essen.
"Danke." Er musterte Zora, während er mit ihr zu Theke hinüber ging. Er kitzelte sie ein wenig und gab ihr ein Stück Schokolade. "Und wie geht es dir, meine Kleine?"
Zora kicherte leise. Sie steckte sich die Süßigkeit in den Mund und verschlang sie im Nu. "Ganz gut, denke ich."
"Das freut mich." Duhran setzte sie auf der Theke ab, als sie nicht mehr länger auf seinem Arm bleiben wollte.
Er drehte sich ein wenig von ihr weg, um Ria zu rufen. "Hallo Riann."
Sie blickte zu ihm. "Meister, schön Sie zu sehen."
Zora krabbelte zu der Jacke ihrer Mutter. Sie hoffte, dass noch ein paar Bonbons aus der Erdallianz in den Taschen waren, die sie so sehr mochte.
Statt dessen fand sie das Denn'bok und zog es heraus. Sie betrachtete es fasziniert von allen Seiten. So genau hatte sie den Kampfstab noch nie anschauen können.
Ria und Duhran unterhielten sich inzwischen in ein paar Metern Entfernung. Rhiannon konnte ihre Tochter über Duhrans Schulter hinweg sehen.
Sie erstarrte förmlich, als sie den Kampfstab in Zoras Händen entdeckte, und sie unterbrach das Gespräch sofort. Sie sah, wie die Kleine mit dem gefalteten Denn'bok herum spielte.
Rhiannon wusste, nur ein falscher Griff, und der Stab würde sich öffnen und womöglich den Kopf ihres Kindes zertrümmern.
"Zora, was tust du da?" fragte Ria so ruhig wie möglich und ging langsam zu ihr.
Die Kleine blickte auf. Ihre Mutter nannte sie nur Zora, wenn sie streng war. "Ich schaue mir nur das Denn'bok an, Mama. Ich bin vorsichtig."
Rhiannon hatte sie inzwischen erreicht.
"Bitte gib mir den Kampfstab sofort", sagte sie und streckte die Hand nach der Waffe aus.
"Hier." Zora ließ sich das Denn'bok abnehmen.
Ria schloss die Augen und seufzte erleichtert. Sie steckte die Waffe weg.
"Habe ich dir nicht schon oft genug gesagt, dass du das Denn'bok nicht anfassen sollst", schimpfte sie dann ungehalten und ließ ihre Tochter dabei nicht aus den Augen. "Das ist gefährlich!"
Das Kind sah sie erschrocken an, denn sie war es nicht gewohnt, dass ihre Mutter sie anbrüllte und begann zu schluchzen "Ich hab nur Bonbons gesucht."
Rhiannon beruhigte sich sofort und nahm sie in die Arme. "Ist ja schon gut, mein Mäuschen, ist ja nichts passiert."
Sie kramte in der Tasche und fand tatsächlich ein letztes Bonbon. Sie gab es ihrer Tochter. "Schau mal, da ist noch eins."
Zora steckte die Süßigkeit in den Mund und hörte auf zu schluchzen. Aber es liefen immer noch ein paar Tränen über ihr Gesicht.
"Tut mir Leid, dass ich dich angeschrien habe." Ria wiegte ihr Kind. "Es ist schon wieder gut, ich habe mich nur erschrocken."
Sie küsste das kleine Mädchen und setzte sie dann auf den Boden. "Komm, du kannst wieder spielen gehen."
"Ja." Zora lief los.
Duhran kam zu Rhiannon. "Das war eben sehr knapp."
Sie rollte die Augen und ließ ihren Atem zischend entweichen. "Wem sagen Sie das. Ich muss meine Waffe in Zukunft besser sichern."
Er sah nachdenklich zu Zora, die sich inzwischen mit Hadenn unterhielt. "Auf Dauer wird das nicht viel nützen."
Ria seufzte. "Sie haben Recht. Zora ist alt genug um im Tempel zu lernen. Sie ist immerhin vier Jahre alt. Sie ist schon zu groß um sie hier her mitzunehmen. Sie stellt hier in letzter Zeit nur Blödsinn an. Ich werde sie nach der Shive zu Sech Tennan bringen. Er soll sie unterrichten oder ihr einen Lehrer aussuchen."
Ein dünnes Lächeln umspielte Duhrans Lippen. "Sie wird aber trotzdem eine Anla'Shok. Sie ist hier zu Hause."
Ria verspannte sich leicht. "Ich weiß."
Fortsetzung: Kapitel 35
Jennifer Fausek
30.10.2002
Website von Jennifer Fausek
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