Rhiannons Geschichte: 1. Kapitel
(von Jennifer Fausek)
Rhiannon Jennings erwachte ohne Trauma oder sonstige Unannehmlichkeiten aus ihrem sehr tiefen Schlaf, der schon fast an Bewusstlosigkeit gegrenzt hatte. Sie ließ die Augen geschlossen und erinnerte sich an das, was in den vergangenen Tagen geschehen war.
Ria dachte an den Tod ihrer Mutter. Sie war erst vor etwa zwei Wochen ums Leben gekommen, als ihr Haus mitten in der Nacht abgebrannt war. Rhiannon selbst wäre beinahe auch getötet worden, aber Nistel hatte sie gerettet. Sie erinnerte sich daran, wie viel Mitgefühl er während des Begräbnisses und der sieben anschließenden Trauertage gezeigt hatte, an denen Freunde und Bekannte sie besucht hatten.
Ria unterdrückte ein Seufzen. Mit dem Tod ihrer Mutter war sie nun endgültig zur Waisen geworden und hatte keinen Platz mehr zum Leben. Die Leute, die sie kannte, hatten selber gerade genug um zu überleben. Und die Behörden hätten sie höchstens in eines der hoffnungslos überfüllten Waisenhäuser gesteckt oder sie gar zur Erde zurückgeschickt, zu irgendwelchen Verwandten, die sie dort vielleicht noch hatte und die sie überhaupt nicht kannte - falls sie sich überhaupt um sie gekümmert hätten. Und das wollte Rhiannon auf keinen Fall.
Ausgerechnet Nistel, ein Minbari, war der einzige gewesen, der sich seit dem Unglück wirklich um sie gekümmert hatte. Er hatte ihr angeboten, dass sie bei ihm wohnen konnte, solange sie wollte. Sie hatte sich bereit erklärt, mit ihm nach Minbar zu kommen, wenigstens für einige Monate, bis sie wusste, wie es nun weitergehen sollte.
Ria erinnerte sich jetzt auch ganz deutlich an das seltsame Verhör letzte Nacht durch die neun ganz mit grau verhüllten Gestalten. Rhiannon wusste noch sehr genau, wie der Raum ausgesehen hatte. Er schien auf einem Raumschiff gewesen zu sein und war offenbar riesengroß. Der Raum war dunkel gewesen, nur sie und die neun vermummten Personen waren in mit grauem Licht ausgeleuchteten Kreisen gestanden: sie in der Mitte, die anderen um sie herum. Ria erinnerte sich noch daran, wie eines der Wesen zu ihr gekommen war. Es hatte ein dreieckiges Ding in den Händen gehabt, mit einem seltsamen Stein in der Mitte, der mit Drähten an den dünnen Metallstäbchen festgemacht worden war. Die Fremden hatten dieses Ding Triluminary genannt.
Ria wusste noch, wie sie ihr das Gerät vor den Körper gehalten hatten, nachdem sie sich geweigert hatte, auf die Fragen zu antworten.
Das letzte, an das Rhiannon sich erinnern konnte war, dass sie sich plötzlich schwindelig gefühlt hatte und sie mit diesem Ding gescannt worden war, tiefer als sie es jemals zuvor erlebt hatte. Dann war es plötzlich dunkel geworden.
Oder war alles nur ein Traum gewesen?
Das Mädchen öffnete die Augen und setzte sich schnell auf.
"Wie fühlst du dich?"
Ria sah in die Richtung, aus der die Stimme kam und entdeckte Nistel, der ihr freundlich zulächelte.
"Was ist passiert?" fragte sie misstrauisch.
"Es ist alles in Ordnung", beruhigte der Minbari sie. "Der Graue Rat hat entschieden, dass du bleiben darfst." Er stand von dem Stuhl auf, auf dem er gesessen hatte.
"In Ordnung?" knurrte Rhiannon. "Die haben mich einfach mitgenommen, mich verhört und mich dann auch noch ohne meine Erlaubnis gescannt."
"Das tut mir leid", entgegnete Nistel aufrichtig. "Ich hätte nicht gedacht, dass das geschehen würde. Haben sie dir weh getan?"
Ria schüttelte den Kopf. "Nein"
"Gut." Er lächelte kurz. "Du wirst übrigens nicht bei mir bleiben, sondern bei einer Frau namens Delenn."
"Warum denn?" fragte sie.
"Es wurde so angeordnet", sagte Nistel sanft. "Komm, zieh dich jetzt an, und komm hinunter. Sie erwartet dich bereits."
Er ließ Rhiannon alleine, damit sie sich in Ruhe waschen und anziehen konnte. Statt des schlichten, aus festem Stoff bestehenden Kleides, das Nistel für sie bereitgelegt hatte, zog sie eine schwarze Hose und ein weißes Hemd an, das ihr bis zu den Schenkeln hinabreichte.
Bevor Ria das Zimmer verließ, sah sie kurz in den Wandspiegel. Sie hatte pechschwarzes, dichtes Haar, das ihr bis knapp über die Schultern fiel und große grüne Augen, die ihr blasses, ebenmäßiges Gesicht dominierten. Um den Hals trug sie ein goldenes Kettchen mit einer kleinen Eule, ebenfalls aus Gold, als Anhänger, und um das rechte Handgelenk hatte sie ein ledernes Haarband geschlungen.
Als Rhiannon leicht verärgert die Treppe herunterkam, warteten Nistel und eine Frau, von der sie glaubte, dass sie Delenn war, bereits auf sie. Ria sah der Minbari direkt in die Augen und musterte sie mit unverhohlener Neugierde. Das war respektlos, und Ria wusste es. Mit ihrem herausfordernden Gesichtsausdruck zeigte sie der Frau, dass sie ganz bewusst gegen die Regeln verstieß. Aber die Minbari schien das nur amüsant zu finden.
"Ich heiße Delenn", stellte sie sich vor. "Wie lautet dein Name?"
"Rhiannon Jennings", antwortete Ria.
Delenn ging um sie herum, um sie genauer zu betrachten. Rhiannon behielt sie dabei so gut wie möglich im Auge. Delenn war nur etwa einen halben Kopf größer als sie, Ria, selbst, aber hinter dem spröden Äußeren verbarg sich eine Kraft, die der eines durchschnittlichen Menschen vermutlich überlegen war.
Delenns Gesicht war fein geschnitten, und ihre Lippen hatten eine tiefe natürliche Röte. Wie alle Minbari hatte sie keine Haare, und sie hatte am Hinterkopf einen knöchernen Kranz, der spitz nach oben zulief.
Am merkwürdigsten fand Ria Delenns Augen. Sie waren hell und wirkten beinahe menschlich. Es zeigte sich Güte in ihnen, Freundlichkeit und Weisheit. Aber da war auch noch etwas anderes, das Rhiannon nicht zu deuten vermochte. War es vielleicht Kummer oder Trauer?
Ria sah zu Boden, als sie diesen Blick nicht mehr länger ertrug.
"Ich werde ab heute deine Mentorin sein", sagte Delenn mit freundlicher, fester Stimme. "Bitte, komm mit mir."
Schweigend ging Rhiannon an Delenns Seite durch Yedor, Minbars Hauptstadt. Zum ersten Mal hatte Ria nun die Gelegenheit, sich richtig umzusehen, und sie staunte über die Schönheit, die sich ihr bot.
Yedor war, egal nach welchen Maßstäben, schlicht und einfach atemberaubend. Es schien fast so, als wären die Gebäude hier von Künstlerinnen und Künstlern erbaut worden, nicht von Architektinnen und Architekten. Die Häuser bestanden aus einem kristallinen, eisblauen Material und harmonierten perfekt mit der umliegenden Natur.
Neben Bungalows und sonstigen Wohnhäusern und Gebäuden aller Art gab es auch Wolkenkratzer, die besonders beeindruckend waren. Diese riesigen Gebilde sahen aus wie unregelmäßige flache Säulen aus Kristall und leuchteten im Licht der Morgensonne in allen Regenbogenfarben. Wenn ein Luftzug über die Spitzen der Wolkenkratzer strich, erklang dezente Musik, die sich wie ein melodisches Windspiel anhörte.
Vor den Häusern waren kleine Beete mit bunten Blumen angelegt worden, und es gab überall in der Stadt Parks.
Delenn und Ria gingen über einen großen, mit unsymmetrischen Steinplatten gepflasterten Platz. Auf der einen Längsseite war dieser Platz von einer niederen Mauer abgeschlossen, was einen guten Grund hatte: Ein paar Meter tiefer hatte sich ein Fluss mit klarem, eiskaltem Wasser seinen Weg durch das Felsgestein gegraben. Weiter vorne konnte Ria einen gewaltigen Wasserfall sehen, das Tosen drang bis zu ihr hinüber.
Rhiannon fiel auf, wie sorgfältig gepflegt die Bauten und auch die Beete und Parks alle waren. Nirgends waren verwitterte Gebäude oder verwilderte Gärten zu sehen. Es wirkte alles fast surreal zeitlos, so dass es Ria kaum glauben konnte, als Delenn ihr erzählte, die Stadt sei mehrere tausend Jahre alt.
Einige Minbari gingen an Delenn und Ria vorbei und warfen dem Menschen teils wütende, teils verächtliche Blicke zu, ließen sie aber in Ruhe.
Delenn führte ihre neue Schülerin zum Ersten Tempel von Yedor. Die Minbari lächelte über Rhiannon, die alles mit neugierigem Staunen betrachtete.
"Warum haben Sie mich hier her gebracht?" wollte sie wissen.
Delenn sah sie in milder Überraschung an. Seit sie Nistels Haus verlassen hatten, hatte sich das Mädchen geweigert zu sprechen.
"Der Tempel ist ein Ort der Studien", beantwortete Delenn die Frage ihres Schützlings. "Deshalb sind wir hier - um zu lernen."
Ria erwiderte nichts darauf, sondern betrachtete die Statue, die an der hinteren Wand der Eingangshalle stand. Sie war aus hellem Stein und zeigte einen Minbari, der eine Schriftrolle in der Hand hielt.
"Das ist Valen", sagte Delenn. "Er ist Minbars größter Führer und Philosoph."
Rhiannon zuckte zusammen und starrte sie an. Nicht zum ersten Mal heute hatte Ria das unangenehme Gefühl, Delenn könne ihre Gedanken lesen, obwohl es zwischen ihnen offenbar keine telepathische Verbindung gab.
"Komm, gehen wir in den Tempelpark", fuhr Delenn fort.
Rhiannon sah sich weiter um, während sie ihrer Mentorin langsam folgte. Ria entdeckte eine Gruppe minbarischer Jugendlicher, die miteinander tuschelten und ihr dabei verstohlene Blicke zuwarfen, einige erstaunt, andere freundlich oder neugierig, ein paar winkten ihr fröhlich zu, schienen sich über den Neuzugang zu freuen.
Rhiannon lächelte zurück und lief weiter. Delenn besorgte ihrer Schülerin Brot, Früchte und kühles, klares Quellwasser zum Frühstück. Sie setzten sich nebeneinander ins Gras an den Teich in der Mitte des Parks, der mit einem schmalen Band aus Kieselsteinen eingefasst war.
Ria aß schweigend und starrte missmutig auf das Wasser. Sie konnte einige vogelartige Tiere zwitschern hören, die Delenn Temshwee nannte.
Der Vorsteher des Tempels, ein alter Priester namens Tennan kam zu ihnen. Er begrüßte Delenn freundlich. Er freute sich sehr, einen seiner früheren Schützlinge wiederzusehen.
"Wer ist das Mädchen? Ist sie deine Schülerin?" fragte Tennan auf minbari, während er dem Menschen einen kurzen Blick zuwarf.
"Ja", antwortete Delenn in der gleichen Sprache. "Ich habe mich bereit erklärt, mich um sie zu kümmern. Sie soll uns im Kampf gegen die Schatten helfen - wenn sie älter ist."
"Ich verstehe." Der Priester wandte sich an Ria. "Wie heißt du, Kind?"
"Rhiannon", entgegnete sie.
"Riann", wiederholte Tennan. "Ein schöner Name."
Rhiannon verzichtete darauf, den alten Priester zu korrigieren. Tennan wechselte noch einige Worte mit Delenn und ging dann.
"Was bedeutet Riann?" fragte Ria, als sie mit ihrer Mentorin alleine war.
Delenn zögerte. "Es ist ein gängiger minbarischer Name und bedeutet ,Fremde' oder etwas in der Art."
Das Mädchen lächelte ironisch. "Was ich ohne Zweifel auch bin: Eine Fremde."
Die Minbari hatte das Gefühl, ihre Schülerin ein wenig trösten zu müssen. Delenn hatte noch nie zuvor einen Menschen berührt, aber jetzt streckte sie vorsichtig die Hand nach Rhiannon aus und umschloss sanft deren Finger. Ria hob den Kopf ein wenig. So abrupt, als hätte sie sich verbrannt, unterbrach sie die Verbindung und rückte von Delenn weg.
"Dass Sie sich um mich kümmern sollen, kann ich nun einmal nicht ändern", fauchte Rhiannon. "Aber wagen Sie es nie wieder, mich anzufassen."
"Es tut mir Leid." Satai Delenn seufzte. Es würde bestimmt nicht einfach werden, sich um dieses Kind zu kümmern.
An jenem Abend zog Rhiannon mitsamt den wenigen Sachen, die sie aus Denera, der Kolonie der Erde, in der sie gelebt hatte, mitgenommen hatte, in Delenns Haus. Nach minbarischen Maßstäben war es ein einfaches Heim, aber für jemanden, der in den ärmlichen Kolonien aufgewachsen war, war es der reinste Luxus.
Ria bekam drei zusammengehörende Räume für sich. Damit hatte sie mehr Platz, als sie jemals zuvor gehabt hatte. Dass die Möblierung eher spartanisch war, machte ihr nichts aus.
Im Wohnteil der Räume stand ein dreieckiger, kleiner, niederer Tisch, um den drei Kissen lagen und ein Regal für persönliche Gegenstände. Außerdem gab es ein Computerterminal. Ein niederer Altar stand an einer Wand, vor dem ein rotes Kissen lag.
Das waren auch schon alle Möbel im Wohnraum, mehr waren aber auch nicht nötig. Von dem riesigen Fenster des Zimmers aus hatte Rhiannon einen großartigen Ausblick auf die Stadt.
Dafür gab es im Schlafzimmer überhaupt keine Fenster, und es gab hier nur drei Möbelstücke: Einen Kleiderschrank, ein Bett und ein Nachtkästchen. In einer Ecke des Raumes stand eine Art Becken, in das in der Nacht glühende Steine gegeben wurden, damit es nicht zu kalt wurde.
Das Kopfende des Bettes - oder vielmehr der Liege - lag deutlich höher als das Fußende, so dass eine Schräglage von dreißig Grad entstand. Ria kannte das schon. Nistel hatte ihr erzählt, dass Minbari glaubten, sie würden den Tod anlocken, wenn sie in waagrechten Betten schliefen. Und eigentlich waren die schrägen Liegen auch recht bequem, nur musste Rhiannon darauf achten, dass sie beim Aufstehen nicht nach vorne fiel, sondern vom Bett rutschte.
Im Badezimmer war es sehr hell, und Rhiannon hatte noch nie eine so ungewöhnliche Einrichtung gesehen. Als Badewanne und Dusche diente ein kleiner Pool aus Stein, in den Wasser aus einer Art Miniaturwasserfall floss. Das verbrauchte Wasser rann wohl irgendwo ab, damit es wieder gereinigt wurde.
In Delenns Haus gab es noch drei weitere Zimmerkomplexe wie die von Rhiannon, außerdem ein Wohnzimmer, ein Esszimmer und zwei Besucherräume. Im Kellergeschoß waren die Küche, die Waschküche und sogar ein kleiner Trainingsraum, der früher möglicherweise einmal die Unterkunft der Dienerschaft gewesen war. Die Zwischenwände, die es gegeben hatte, waren wohl herausgerissen worden. Immerhin besaßen die Leute aus der Arbeiterkaste inzwischen eigene Häuser oder zumindest Bungalows.
Das ganze Haus war schon unglaublich, aber was für Ria wirklichen Luxus darstellte, waren die Haushaltshilfen, die für Delenn arbeiteten. Es waren insgesamt vier, zwei Männer und zwei Frauen.
Sie hatten Delenn ehrerbietig begrüßt und Rhiannon neugierige Blicke zugeworfen. Offenbar hatten sie schon gewusst, dass ein Mensch zu ihnen kommen würde.
Zwei von ihnen, eine Frau namens Nalae und ein junger Mann namens Tonall, offenbar Nalaes Sohn, waren, wie es aussah Ria zugeteilt. Die beiden anderen, Inesval von den F´tach Inseln und seine Ehefrau Aidoann schienen sich mehr um Delenn zu kümmern.
Irgendwie fand Rhiannon das schade, denn Inesval war der einzige der vier, der Erdstandard sprechen konnte. Außerdem mochte er die Menschen. Ria hatte erfahren, dass er mit seinem Vater, einem Händler, zwei Jahre lang auf der Erde gelebt hatte und erst vor etwa einem Monat nach Minbar zurückgekehrt war.
Als Ria von ihrem Badezimmer in den Wohnteil ihrer Räume zurückkam, betrat Delenn gerade das Zimmer. Rhiannon presste kurz die Lippen zusammen, als sie ihre Lehrerin sah. Konnten Minbari denn nicht anklopfen?
Delenn lächelte. "Gefallen dir deine Räume?"
Rhiannon nickte schweigend.
Delenn stöhnte innerlich. Ihre neue Schülerin war noch immer sehr wortkarg, und sie schien nicht die geringste Absicht zu haben, ihr Verhalten zu ändern.
"Na schön", meinte Delenn. "Hast du Hunger?"
Ria nickte erneut.
"Das Abendessen ist bald fertig", sagte die Minbari. "Bitte, komm mit mir hinunter."
"Von mir aus."
Delenn hob erstaunt die Brauen. "Sieh an, du hast das Reden also doch nicht verlernt."
Rhiannon warf ihr einen wütenden Blick zu, gab aber keine Antwort.
"Nun, wenn du nicht mit mir reden willst, bitte." Delenn runzelte verärgert die Stirn. "Ich hoffe aber, du lehnst es nicht ab zu essen."
In den Mundwinkeln des Mädchens zuckte es kurz, dann schüttelte sie den Kopf.
"Gut."
Das Abendessen verlief - wie nicht anders zu erwarten war - sehr ruhig. Weder Delenn, noch Rhiannon redeten besonders viel. Zufrieden stellte Delenn fest, dass ihre Schülerin genügend aß, es also wirklich nicht darauf anlegte, krank zu werden.
Sobald sie fertig gegessen hatte, stand Rhiannon auf. Sie wollte weg von Delenn und sich das Haus genauer ansehen.
Schließlich fand sich Ria im Trainingsraum wieder. Er war vollkommen mit Matten ausgelegt, um Verletzungen bei den Übungen zu vermeiden. An einer Wand hingen zwei hölzerne, etwa eineinhalb Meter lange Schlagstöcke. Es schien sich dabei um Übungswaffen zu handeln, denn für einen richtigen Kampf waren sie nicht stabil genug.
Kurzerhand zog Rhiannon ihre Socken und ihr Hemd aus. Barfuß und im kurzärmligen Leibchen fühlte sie sich schon wesentlich wohler. Sie hatte fast den Eindruck, als wäre sie in dem Dojo, wo sie Karate zur Selbstverteidigung gelernt hatte, jeden Tag nach der Schule, zwei Stunden lang.
Nach einigen Überlegungen nahm Ria einen der Bambusstäbe in die Hand und versuchte probeweise ein paar Schläge. Es fühlte sich gut an, aber der Stab war schwerer, als sie gedacht hatte.
Rhiannon hatte den Umgang mit dem Stab bisher nur ansatzweise gelernt und wusste kaum mehr, als wie sie ihn halten musste, doch im Moment war ihr das egal. Sie prügelte mit ihrer Waffe auf ihren imaginären Gegner ein.
Nach einer Weile schleuderte Ria den Holzstab beiseite. Ohne das Ding konnte sie viel besser kämpfen. Wütend sprang Rhiannon hoch in die Luft und führte gleich zwei Schläge mit ihren Füßen aus, landete dann in halb geduckter Position und setzte mit der linken Faust nach.
Es war so ungerecht! Von einem Tag zum nächsten hatte sie all das aufgeben müssen, was bisher ihr Leben bestimmt hatte: Ihre Freunde, ihre Bekannten, ihre Schule, ihr Zuhause. Sicher, sie war aus freien Stücken nach Minbar gekommen - aber nur, weil es in ihrer Heimat keine Zukunft mehr für sie gegeben hätte oder höchstens eine, die ihr ganz und gar nicht gefiel.
Ihre vertraute Welt war ohnehin verloren, auch wenn sie geblieben und sich tatsächlich den Behörden anvertraut hätte. Auf Denera gab es kein Waisenhaus, das nächste befand sich in einer Kolonie, mehr als zwei Tage entfernt.
Es war nicht fair! Rhiannon trainierte weitere Schlagkombinationen mit Armen und Beinen und stieß dabei immer wieder laute Kampfschreie aus. Es war ihr dabei vollkommen egal, ob jemand sie hören konnte oder nicht. Schon bald begann Ria auf Grund der anstrengenden Übungen stark zu schwitzen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon trainierte, aber irgendwann war sie so erschöpft, dass sie einfach zu Boden fiel.
Mit Müh und Not gelang es Rhiannon, sich auf den Rücken zu drehen. Ihr Herz schlug schnell und so heftig, dass sie es spüren konnte.
Die ganze Wut, die sie empfunden hatte, war - im Moment jedenfalls - verraucht. Zurückgeblieben war eine seltsame Art von Benommenheit, die alle Gefühle erstickte.
Satai Delenn war zuerst besorgt gewesen, als sie laute, zornige Schreie aus dem Trainingsraum hörte. Als sie vorsichtig die Tür zu dem Raum öffnete, um zu sehen, was los war, entdeckte sie zu ihrem Erstaunen ihre neue Schülerin.
Aber was, um alles in der Welt, trieb Rhiannon da? Ganz offensichtlich handelte es sich bei diesen Übungen um eine Kampftechnik, aber Delenn hatte noch nie einen derartigen Stil gesehen. Ria benutzte nicht nur die Arme, wie Minbari und viele andere Völker es taten, sondern auch die Beine.
Delenn sah dem Training weiter zu und runzelte besorgt die Stirn, als sie zu begreifen begann: Das waren nicht nur einfache Übungen, Rhiannon kämpfte gegen etwas in ihrem Inneren. Sie selbst war ihr Gegner.
Als Ria schließlich auf dem Boden lag, betrat Delenn den Raum. Rhiannon drehte den Kopf zur Seite, zeigte so, dass sie keine Lust hatte zu reden.
Aber es blieb still.
Nach einer Weile sah Ria verblüfft zu Delenn hoch, die neben ihr stand und mit diesem wissenden Blick zu ihr herunter sah.
Mühsam rappelte sich Ria auf, nahm ihre Sachen und ging zur Tür.
"Gute Nacht, schlaf gut", sagte Delenn.
Rhiannon drehte sich kurz zu ihr um, ging dann aber ohne ein Wort.
Fortsetzung: Kapitel 2
Jennifer Fausek
14.10.2002
Website von Jennifer Fausek
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