Rhiannons Geschichte: 8. Kapitel
(von Jennifer Fausek)
Rhiannon freute sich schon sehr auf ihre Aufnahme in den Kreis der Akolythen. Als Akolythin würde sie weitaus mehr Freiheiten und Rechte haben als sie als Novizin hatte. Für junge Minbari war es ein wichtiger Schritt zum Leben als Erwachsene.
Für Ria bedeutete es aber auch, dass sie sich auf die Prüfungen vorbereiten musste, die vor ihr lagen. Bevor sie in den Kreis der Akolythen aufgenommen wurde, musste sie einige Tests bestehen.
Die meisten Fächer fielen Rhiannon relativ leicht, nur mit Philosophie hatte sie noch immer Schwierigkeiten. In einigen zum Teil sehr hitzigen Diskussionen mit Draal lernte Ria aber schließlich doch die wichtigsten Grundlagen. Sie bestand dann den Test auch und freute sich besonders darüber, da dieses Fach ihr die meisten Schwierigkeiten bereitet hatte.
An dem Vormittag, an dem die Aufnahmezeremonie stattfinden sollte, war die riesige Gebetshalle des Tempels fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Die meisten Leute, die gekommen waren, gehörten natürlich zu den Familien der Kinder.
Alle Novizen und Novizinnen trugen Kleider ganz in weiß, der Farbe der Akolythen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Rhiannon hatte noch nie zuvor in ihrem Leben ein Kleid angehabt, sondern immer nur Hosen. Sie fühlte sich deshalb ein wenig unwohl in ihrer Haut, auch wenn nicht nur die Mädchen, sondern die Jungen ebenfalls diese Kleider tragen mussten.
Die meisten minbarischen Kinder waren schon vor Beginn der Zeremonie sehr gespannt, Ria hingegen langweilte sich ein bisschen.
Um sich die Zeit zu vertreiben, sah sie zu den Schaulustigen hinüber. Sie entdeckte Delenn, die neben Shaal Mayan und einem Minbari-Mann saß, den Rhiannon nicht kannte. Es gab auch noch andere bekannte Gesichter.
Ria blickte zu Nistel und Draal, die nebeneinander saßen, da erkannte sie bei ihnen noch einen weiteren Minbari: F'hursna Sech Duhran.
Seit sie sich vor etwa einem Jahr das erste Mal getroffen hatten, hatte Rhiannon den Meisterlehrer nicht mehr gesehen. Verwirrt fragte sie sich, was Duhran hier machte.
Offenbar war sie nicht die einzige, die den Meisterlehrer entdeckt hatte. Ria bemerkte, wie einige der Kinder, vor allem aus der Kriegerkaste, sich bedeutsame Blicke zuwarfen und miteinander tuschelten. Aus den Gesprächsfetzen, die sie aufschnappte, erfuhr Rhiannon, dass Duhran höchstwahrscheinlich gekommen war, um nach Talenten zu suchen.
Ria musste sich sehr zusammennehmen, angesichts der Aufregung der anderen nicht zu grinsen. Immerhin war sie wohl hier die einzige, die nicht von F'hursna Sech Duhran unterrichtet werden wollte.
Feierliche Ruhe kehrte ein, als Tennan nun zum Altar kam, um mit der Zeremonie zu beginnen. Rhiannon achtete kaum auf die Worte, als der alte Priester aus einer Schriftrolle vorlas, zu viele andere Dinge gingen ihr durch den Kopf.
Tennan beendete die Lesung irgendwann, und es folgten einige Gebete. Selbst wenn Ria jetzt zugehört hätte, hätte sie nichts verstanden. Die meisten Gebete wurden nämlich in der Alten Sprache der Gelehrten rezitiert, die sie nicht gelernt hatte und die ohnehin nur noch einige wenige Geistliche und Gelehrte kannten. Jene Gelehrtensprache war für die Minbari etwa das selbe, wie Latein für die Menschen.
Rhiannon biss sich für einen Moment auf die Lippen. War Duhran vielleicht ihretwegen gekommen? Aber jetzt blieb ihr keine Zeit, um weiter darüber nachzudenken. Ria merkte, dass die Gebete beendet wurden. Jeder der Neulinge musste nun vortreten um ein Reinigungsritual zu durchlaufen. Und um den Eid abzulegen, den jeder Akolyth und jede Akolythin ablegen musste, nämlich Gehorsam, außerdem niemals das erworbene Wissen zu missbrauchen oder den Lehrer beziehungsweise die Lehrerin zu verraten.
Als Rhiannon als letztes der Kinder vortrat, um das Gelübde abzulegen, gab es leises Gemurmel unter den Minbari. Ria ignorierte es, hob die Hände zum Reinigungsritual und sprach das zeremonielle Gebet dazu klar, ohne den geringsten Akzent. Als sie kurz zu Delenn sah, sah sie fast so etwas wie mütterlicher Stolz in den Augen der Minbari. Rhiannon holte tief Luft und rezitierte auch den Eid.
Sie lächelte leicht, als sie sich anschließend verneigte und zu den anderen Jugendlichen zurückkehrte. Ria war heilfroh, alles überstanden zu haben.
Die Zeremonie endete, und eine - für minbarische Verhältnisse - recht ausgelassene Feier begann. Rhiannon wollte dem Trubel so schnell wie möglich entgehen. Sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab, verließ sie unbemerkt die fröhliche Gemeinschaft.
Allein schlenderte sie durch die Eingangshalle und blieb vor der großen Statue von Valen stehen, die sie schon am ersten Tag hier bewundert hatte. Nachdenklich sah sie an der steinernen Figur hoch und seufzte.
"Warum bist du nicht bei den anderen Kindern?"
Rhiannon fuhr erschrocken herum und erkannte F'hursna Sech Duhran, der näher kam. "Ich wollte allein sein, um ein wenig nachzudenken."
"Und worüber?" fragte Duhran, als er sie erreicht hatte.
Ria setzte sich zu einer Antwort an, schwieg dann aber.
Der Meisterlehrer musterte sie abschätzend. "Erinnerst du dich? Ich habe dir gesagt, dass wir uns zu gegeber Zeit wiedersehen würden."
Rhiannon nickte unbehaglich. Und sie hatte schon so gehofft, er hätte sie vergessen... "Und weswegen kommen Sie gerade jetzt?"
Duhran ging um sie herum. "Ich habe dich das ganze letzte Jahr im Auge behalten. Du bist nicht für ein Leben im Tempel geschaffen. Ich habe viel mehr den Eindruck, dass du eine Kriegerin bist." Er holte seinen Kampfstab aus seinem Umhang hervor. "Ich möchte sehen, was du gelernt hast."
Auch Rhiannon griff in die Falten ihres Kleides und nahm ihr Denn'bok zur Hand. Während sie es aktivierte, verneigte sie sich. "Ich bin bereit."
"Wir werden sehen."
Schon holte Duhran zum ersten Schlag aus. Ria lenkte ihn ab, was ihr einige Mühe bereitete. Der Denn'bok-Meister war viel stärker als Tennan oder die Jugendlichen, mit denen sie sonst immer trainierte.
Rhiannon ging sofort zum Gegenangriff über, um nicht noch weiter in die Defensive gedrängt zu werden. Allerdings musste Duhran kaum einen Schritt zurückweichen. Ria war klar, dass er den Kampf innerhalb von ein, zwei Sekunden beenden konnte, wenn er das wollte. Aber offenbar ging es ihm wirklich nur darum, sie zu testen.
"Genug." Duhran wehrte Rhiannons letzten Angriff spielend ab. Im Gegensatz zu Ria war er auch nicht außer Atem. Gelassen steckte der Denn'bok-Meister seine Waffe weg. Ria folgte seinem Beispiel und verneigte sich. Sie holte ein paar Mal tief Luft, um schneller wieder zu Atem zu kommen.
"Du hast viel gelernt, wie ich es mir gedacht habe", sagte Duhran. "Ich werde bei dir eine Ausnahme machen und dich unterrichten, obwohl du ein Mensch bist."
Rhiannon war so verblüfft, dass sie das Protokoll vergaß und dem Denn'bok-Meister in die Augen sah. Nach einigen Sekunden senkte sie den Blick wieder ein wenig.
"Ich fühle mich durch ihr Angebot sehr geehrt, Meister", entgegnete Ria bedächtig. "Aber Sie sollten zuerst mit Satai Delenn sprechen. Ich weiß nicht, ob es ihr recht wäre, wenn Sie mich einfach so unter Ihre Fittiche nehmen würden."
"Das lass mal meine Sorge sein", meinte Duhran. "Ich werde schon mit Delenn reden."
"Worüber willst du mit mir reden?" erklang Delenns kühle Stimme.
Der Denn'bok-Meister und Rhiannon verneigten sich, als sie zu ihnen kam.
"Riann ist jetzt eine Akolythin", erklärte F'hursna Sech Duhran. "Es ist an der Zeit, dass ich sie unterrichte. Ich habe sie schon gefragt, ob sie das möchte, aber sie meinte, ich solle zuerst mit Ihnen sprechen."
Delenn sah kurz zu ihrem Schützling. Kluges Mädchen, dachte sie. Sie hat Duhran eine Zusicherung gemacht, ohne sich festlegen zu lassen. Laut sagte sie: "Ich habe nichts dagegen."
"Gut, dann wäre das ja geklärt." Duhran wandte sich an Ria. "Wir treffen uns morgen früh hier zum Training."
"In Ordnung." Sie verneigte sich.
Duhran erwiderte die Verbeugung und ging. Als er verschwunden war, drehte sich Rhiannon wütend zu Delenn um.
"Wie konntest du mir das antun?" zischte Ria aufgebracht. "Ich habe F'hursna Sech Duhran gesagt, dass er mit dir sprechen soll, damit du ihm den Unterricht ausredest!"
"Ich wusste das", erwiderte Delenn.
"Und trotzdem hast du es nicht für nötig gehalten, mir zu helfen." Rhiannons Augen funkelten wütend. "Ich will ihn nicht als Lehrer haben. Er ist mir unheimlich."
Delenn hob beschwichtigend die Arme. Sie dachte an ihren früheren Lehrer Satai Dukhat, der damals der Gewählte gewesen war. Er hatte es ihr ermöglicht, Mitglied im Grauen Rat zu werden. Sie hatte zu Anfang auch Angst vor ihm gehabt, doch mit der Zeit war zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft entstanden. Nur war dieser Freundschaft durch Dukhats Tod ein abruptes Ende gesetzt worden. Er war beim ersten Kontakt mit den Menschen ums Leben gekommen.
"Es tut mir leid, aber ich konnte dir diesmal nicht helfen", sagte Delenn. "Sech Duhran ist ein guter Lehrer. Und wer weiß? Vielleicht beginnst du ihn sogar ein wenig zu mögen, wenn du ihn erst besser kennst."
Rhiannon brummte etwas Unverständliches auf Erdstandard. "Wie du meinst."
"Es ist gut so", erwiderte Delenn sanft. "Aber eigentlich wollte ich über etwas anderes mit dir reden. Ich weiß, du willst eine Familie. Ich habe lange darüber mit meinem Clan geredet."
"Dein Clan?" wiederholte Ria. Bisher hatte es die Minbari immer vermieden, über ihre Familie zu sprechen.
Delenn nickte. "Ich gehöre dem Clan der Mir an, einer sehr alten und respektierten Familie. Sie wären bereit, dich aufzunehmen, als meine Pflegetochter... das heißt, wenn du das willst."
Ria sah sie völlig überwältigt an. "Du willst mich wirklich als Tochter haben?"
"Ja, wenn du gerne bleiben möchtest..."
Rhiannon umarmte sie voller Freude. "Und ob ich das will." Sie runzelte die Stirn. "Gehöre ich dann auch der religiösen Kaste an?"
Delenn schüttelte den Kopf. "Du würdest nur meinem Clan angehören. Welchen Weg du schlussendlich gehen willst, kannst du entscheiden, wenn du erwachsen bist." Sie machte eine kurze Pause. "Neroon hat in einem Punkt recht: ich - und auch deine anderen Freunde, die du hier hast - können dich nicht für immer beschützen. Aber der Clan bietet dir Sicherheit, die dir, solange du ihm angehörst, niemand mehr nehmen kann, nicht einmal der Graue Rat kann dich dann mehr wegschicken."
"Solange ich ihm angehöre?"
Delenn nickte knapp. "Wenn sich jemand extrem schwerer Verbrechen schuldig macht, wie zum Beispiel Hochverrat, kann es sein, dass die betreffende Person vom Clan aus der Familie ausgeschlossen wird. Aber selbst bei schlimmen Fällen kommt ein Ausschluß äußerst selten vor... Du wirst den Clan übrigens heute abend kennenlernen."
Ria lächelte. "Ich freue mich schon darauf."
Delenn legte ihr die Hand auf die Schulter. "Und jetzt schlage ich vor, dass wir nun wieder zur Feier zurückgehen."
"Einverstanden."
Der Clan traf sich im Fünften Tempel von Yedor, wo Callenn, der Minbari, der während der Aufnahmezeremonie neben Delenn gesessen hatte, Vorsteher war. Er gehörte Delenns Familie an.
Der Clan der Mir bestand aus etwa fünfunddreißig Mitgliedern, darunter auch einige Kinder, von denen sich die Kleinsten vor Rhiannon hinter ihren Eltern versteckten.
So etwas wie ein Oberhaupt gab es nicht, aber Callenns und Delenns Meinung zählte innerhalb der Familie sehr viel, und Callenn war so eine Art Sprecher des Clans.
Ria verstand die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern des Clans nicht ganz. Minbarische Familien schienen etwas anders strukturiert zu sein als menschliche.
Callenn trat vor und musterte Rhiannon genau. "Ist das Riann?"
"Rhiannon", berichtigte Delenn und nickte bestätigend. "Sie ist meine Schülerin und Assistentin. Ich möchte sie als meine Pflegetochter aufnehmen."
"Das wissen wir", erwiderte Callenn. Er ging um sie herum. "Und der Clan hat sich entschieden, zuzustimmen."
Er wandte sich an Ria. "Was ist mit dir, Kind? Entspricht es auch deinem Wunsch, Delenns Tochter zu sein?"
Sie sah kurz zu Delenn. "Ja", antwortete das Mädchen, leicht überrascht von der Frage.
Callenn lächelte dünn. "Gut, wenn das so ist, stehst du ab sofort unter dem Schutz des Clans der Mir, genau wie dein zukünftiger Lebenspartner, falls du dir einen wählst und deine Kinder, die du vielleicht einmal haben wirst.
Du hast alle Rechte und Pflichten wie alle anderen Clanmitglieder auch. Mit einer Ausnahme: du wirst nicht Delenns Nachfolge als Satai antreten können, weil du ein Mensch bist."
"Das ist in Ordnung", sagte Delenn statt Rhiannon. "Ich habe noch genug Zeit, um meine Nachfolge zu regeln."
"Dann, meine Tochter, sei willkommen, Riann vom Clan der Mir", sagte Callenn und verneigte sich vor Ria, und die anderen taten es ihm gleich.
Das Mädchen verneigte sich ebenfalls. "Danke."
Nun kamen die Männer, Frauen und Kinder näher, um Rhiannon in ihrer Mitte willkommen zu heißen und sich mit ihr bekannt zu machen.
Zur Feier des Tages aß der ganze Clan zusammen zu Abend. Das gab Ria die Gelegenheit, die Familie besser kennenzulernen. Nach und nach verloren auch die Kinder die Scheu vor dem Menschen.
Eines der kleinen Kinder, das offenbar besonders mutig war, setzte sich sogar auf Rhiannons Schoß, ließ sich von ihr füttern und kurze Geschichten erzählen.
Ria war erstaunt, wie unkompliziert ihre Aufnahme in den Clan erfolgt war, da Minbari es sonst mit Ritualen und Zeremonien immer sehr genau nahmen.
Rhiannon genoss den Abend sehr. Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie das Gefühl, wieder Teil einer Familie zu sein.
Nach anfänglicher Zurückhandlung war Ria von Delenns Clan doch herzlich aufgenommen worden. Sie wurde von ihnen wirklich wie ein Kind der Familie behandelt.
Später, auf dem Weg nach Hause war Delenn auffallend schweigsam und offenbar in Gedanken versunken. Rhiannon sah sie besorgt von der Seite an.
"Was ist los?"
Delenn schüttelte andeutungsweise den Kopf. "Es ist nichts."
"Wie du meinst", brummte Ria. "Aber eins würde mich interessieren: Callenn ist doch dein Verwandter. Warum werde ich dann nicht in seinem Tempel unterrichtet?"
Delenn blickte sie an. "Kinder werden so gut wie nie von Mitgliedern des eigenen Clans unterrichtet. So soll verhindert werden, dass die Kinder strenger oder großzügiger behandelt werden als die anderen. Außerdem wird so verhindert, dass ein Clan nicht das gesamte Wissen über etwas ganz für sich beansprucht."
"Oh, ich verstehe", entgegnete Rhiannon. Vorsichtig fügte sie hinzu: "Ist wirklich alles in Ordnung? Ich habe den Eindruck, dass dir irgendetwas Sorgen macht."
"Unsinn, ich mache mir keine Sorgen", widersprach Delenn.
Rhiannon schwieg. Sie wusste, was immer die Minbari beschäftigte, sie würde jetzt ganz sicher nicht darüber sprechen.
Fortsetzung: Kapitel 9
Jennifer Fausek
14.10.2002
Website von Jennifer Fausek
|
|