Rhiannons Geschichte: 27. Kapitel
(von Jennifer Fausek)
Wie jeden Tag machte sich Rhiannon Jennings auf den Weg zum Tempel und freute sich über das schöne Wetter, auch wenn es eisig kalt war. Ihre kleine Tochter hatte sie in Nalaes Obhut gelassen.
Zora war mittlerweile zehn irdische Monate alt. Sie begann jetzt damit, zu versuchen aufzustehen, ja, in zwei, höchstens drei Monaten würde sie bestimmt schon laufen können. Sie hatte kürzlich auch ihr eigenes Zimmer bekommen.
Ria hatte vor, im Tempel ihre Studien fortzusetzen, das hieß, sobald sie sich die Zeit dafür nehmen konnte oder jemanden fand, der für sie einspringen würde.
Diesmal hatte sie Glück, denn es gab ausnahmsweise nur sehr wenig zu tun, und sie konnte ab Mittag ihre Arbeit einem anderen übergeben und sich um ihre eigenen Sachen kümmern.
Ria betrat die riesige Bibliothekshalle, die wenigstens dreißig Meter hoch und mit einer Kuppel aus Glas versehen war. Steile Stiegen und schmale Stege führten zu den unzähligen Datenkristallen, Schriftrollen und Büchern. Es waren zum Großteil Aufzeichnungen des Tempels und Lehrbücher. In der Halle gab es auch ein paar Tische auf denen Computer standen und wo sich jeder in Ruhe hinsetzen und ungestört studieren konnte.
Rhiannon schloss leise die Tür hinter sich und sah sich um. Sehr gut, außer ihr selbst schien im Moment niemand hier zu sein, um irgendwelche Schriften zu lesen oder auszuleihen. Also konnte sie sich in Ruhe die richtigen Aufzeichnungen heraussuchen und sich dann irgendwo hin zurückziehen, wo sie für eine Weile ungestört sein würde.
Ria wollte sich gerade einen Datenkristall nehmen, da bemerkte sie plötzlich eine Schriftrolle auf einem der niederen Tische, die jemand offenbar achtlos herumliegen lassen hatte. Die junge Frau ließ den Kristall liegen. Wer, um alles in der Welt, hatte den Text wohl hier vergessen?
Sie kam zum Tisch und hob die Schriftrolle behutsam auf. Rhiannon hatte das Dokument noch nie zuvor gesehen. Sie ahnte aber, dass dieses Schriftstück vermutlich aus dem bewachten Archiv des Tempels kam. Nur, wer hatte es dann dort heraus geholt und einfach so hier liegen lassen?
Ria wusste, es wäre das beste, das Papier einfach zu ignorieren, weil sie höchstwahrscheinlich Probleme bekommen würde, wenn sie es anrührte. Doch ihre unbändige Neugierde zwang sie, die Rolle zu öffnen und zu lesen. Ein geheimes und verbotenes Schriftstück - es war einfach zu verlockend!
Der Sprache und der Schrift nach zu urteilen musste diese Aufzeichnung etwa tausend Jahre alt sein. Rhiannon runzelte verwirrt die Stirn, während sie die für sie ungewohnten Buchstaben und Worte entzifferte. Es schien sich bei diesem Dokument um eine Art Tagebuch - oder zumindest einen Teil davon - zu handeln.
Aber wer oder was waren die Schatten, und warum hatten die Minbari Krieg gegen sie geführt? Und was hatte es mit den Anla'shok auf sich?
Bevor Ria Antworten auf diese Fragen finden konnte, fühlte sie plötzlich ein fremde Präsenz in ihren Gedanken. Zuerst war dieses andere Bewusstsein gerade am Rand ihres gedanklichen Kosmos, kaum wahrnehmbar. Langsam und sehr sanft, beinahe zärtlich tastete es sich vor. Rhiannon empfand diese Präsenz im ersten Moment fast als angenehm.
Doch mit einem Mal wurde sie ärgerlich. Wer war so dreist, einfach ohne ihre Erlaubnis telepathischen Kontakt zu ihr aufzunehmen?
Wer bist du? erklang eine behutsame Stimme in ihrem Kopf, die nicht die ihre war.
Und da wusste Ria plötzlich sehr genau, wer in ihren Gedanken war und wo sich diese Person befand - nämlich gerade zwei Meter hinter ihr!
Beinahe hätte Rhiannon das Schriftstück vor Schreck fallen lassen, und sie wirbelte herum. Ihre Augen blitzten auf, als sie Ulkesh' Schutzanzug sah.
"Verschwinden Sie auf der Stelle aus meinen Gedanken!" zischte Ria. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen stieß sie ihn mit ihren Gedanken zurück, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, er war viel stärker als sie.
So sachte, wie der Vorlone den Kontakt zu ihr hergestellt hatte, unterbrach er ihn auch wieder. Er war so behutsam, dass klar war, er wollte sie auf keinen Fall verletzen. Rhiannon fragte sich, ob sie Ulkesh nicht vielleicht doch unrecht getan hatte.
Wer bist du? wiederholte er seine Worte, diesmal akustisch.
Rias Finger schlossen sich fester um die Schriftrolle. Das angenehme, warme Gefühl, das sie während des telepathischen Kontakts mit Ulkesh verspürt hatte, verwandelte sich in Beklemmung. Mit raschen Schritten lief sie Richtung Tür.
Du kannst nicht vor dir selbst fliehen.
Rhiannon hörte nicht auf diese Worte, sondern rannte weiter. Sie steckte die Schriftrolle in ihren Mantel und verließ den Tempel, bevor jemand sie daran hindern konnte.
Es gab eine Person, die alle ihre Fragen, die sie jetzt hatte, bestimmt beantworten konnte: Delenn. Ria wusste, dass sie im Moment bei Gesprächen im Regierungsgebäude von Yedor war.
Als Rhiannon das Gebäude betrat, war die Debatte offenbar gerade unterbrochen worden. Einige Minbari standen in der Eingangshalle herum und redeten angeregt miteinander. Ria entdeckte Delenn, die gerade mit F'hurs Anoon, der Bürgermeisterin von Yedor sprach.
Rhiannon unterbrach das Gespräch zwischen den beiden Frauen so respektvoll wie möglich, verschwendete aber nicht mehr Zeit als unbedingt notwendig mit Höflichkeiten.
"Delenn, ich muss unbedingt mit dir reden", sagte sie in neutralem Tonfall. "Allein."
Delenn nickte nur knapp, und sie gingen ein ganzes Stück beiseite.
"Was gibt es denn so Dringendes?"
"Das hier." Ria zog die Schriftrolle aus ihrem Mantel und gab sie ihrer Pflegemutter.
Delenn öffnete das Dokument, und ihre Augen weiteten sich kurz, als sie es erkannte. "Woher hast du das?" fragte sie ruhig.
"Das tut nichts zur Sache", erwiderte Rhiannon aufgebracht. "Du schuldest mir eine Erklärung! Ich will alles über die Schatten und die Anla'shok wissen!"
Delenn hielt für einen Moment die Luft an und ließ den Atem dann zischend entweichen. "Jetzt ist es also soweit. Komm mit mir, ich werde dir alles erzählen."
Sie gingen hinunter in den unterirdischen Keller des Regierungsgebäudes, wo sich Gewölbe an Gewölbe reihte. Früher waren hier Schutzbunker gewesen (zum Teil waren sie immer noch vorhanden), aber seit Valens Zeiten wurden in vielen der Hallen alte Aufzeichnungen - oder zumindest Kopien davon - aufbewahrt.
Zwei Wachen standen vor den Toren der Räume, denn nur Mitgliedern des Grauen Rates und des Ältestenrates, hohen Geistlichen und sonstigen wenigen auserwählten Personen war der Zugang zu diesen zum Großteil geheimen Schriftstücken gestattet.
Es roch ein wenig muffig und steril, weil nicht sehr viele Leute hier herunter kamen und das Ventilationssystem die Luft säuberte.
Delenn suchte sich zielstrebig eine spezielle Aufzeichnung heraus, schob den kleinen Datenträger dann in ein Abspielgerät im Raum und dämpfte die Lichter.
"Dies hier ist die einzige visuelle Aufzeichnung, die wir aus der Zeit der ersten Begegnung mit den Schatten noch haben", erklärte sie, während sie den Computer aktivierte. "Fast alle Berichte über die Schatten und deren Verbündete sind in den Wirren des Krieges vor tausend Jahren vernichtet worden oder im Laufe der Zeit verloren gegangen."
Die holographische Projektion zeigte riesige spinnenartige glänzende Schiffe, die sich kaum von der Schwärze des Weltalls abhoben. Sie kämpften gegen Raumkreuzer der Minbari. Das Design der minbarischen Kriegsschiffe hatte sich seither kaum verändert. Auf dem 'Video' waren auch noch andere Schiffe zu sehen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit übergroßen grünen Kraken hatten und die - wie Rhiannon erfuhr - von den Vorlonen stammten.
"Vor etwa tausend Jahren haben wir gerade erst damit begonnen, den interstellaren Weltraum zu erforschen - und wurden sogleich mit einem übermächtigen uralten feindlichen Volk konfrontiert."
"Den Schatten", vermutete Rhiannon.
"Richtig." Delenn nickte. "Wir wissen nicht genau, wie das passiert ist, vielleicht hat eines unserer Forschungsschiffe sie aus Versehen aus ihrem Schlaf geweckt. Sie waren plötzlich überall. Zuerst kannten wir sie nur von den Zerstörungen her, die sie hinterlassen hatten, ohne sie jemals selbst zu Gesicht zu bekommen, deshalb nannten wir sie auch 'die Schatten'. Wie du sehen kannst, war der Name perfekt gewählt. Sie waren uns technisch gesehen weit überlegen. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten uns vernichtet."
"Und wie konntet ihr sie trotzdem besiegen?"
"Nun, in gewisser Weise haben wir das gar nicht", entgegnete Delenn. "Wir haben es nur geschafft sie für einige Zeit aus ihrer Heimat Z'ha'dum zu vertreiben. Valen ist damals zu uns gekommen. Er brachte eine riesige Kampfstation und mächtige Verbündete mit sich: die Vorlonen. Und etwas, das noch viel wichtiger war: nämlich Einigkeit und die Hoffnung, dass wir diesen Krieg gewinnen konnten."
Die Aufzeichnung schaltete sich ab, und Ria runzelte verwirrt die Stirn. "Wie konnte Valen denn einfach so auftauchen?"
Delenn zögerte und schaltete das Licht wieder ein. "Wir wissen es nicht genau. Die Legende besagt, dass er aus ferner Zukunft zu uns gekommen ist. Während des Krieges gegen die Schatten hat er, um die zerstrittenen Clans der Kriegerkaste zu einigen, eine Spezialeinheit auf die Beine gestellt, die sich Anla'shok nennt."
"Wo sind die Anla'shok?" wollte Ria wissen. "Ich habe noch nie etwas von ihnen gehört oder gesehen."
"Kannst du auch nicht", sagte Delenn. "Sie haben ihre Basis nicht hier, sondern in Tuzanor."
Stadt des Kummers? wiederholte Rhiannon in Gedanken. Was für ein seltsamer Name. "Und weiter?"
"Die Anla'shok haben entscheidend dazu beigetragen, dass wir diesen Krieg gewinnen konnten. Jetzt, in Friedenszeiten sind die wenigen, die übrig geblieben sind, praktisch nur noch dazu da, um zu beobachten und zu vermitteln. Und um auf die Schatten zu warten."
"Auf die Schatten zu warten?" echote Ria.
"Ja." Delenn seufzte. "Valen hat uns prophezeit, dass die Schatten nach tausend Jahren des Friedens zurückkehren würden. Diese tausend Jahre sind beinahe um."
"Soll das heißen, es wird nicht mehr lange dauern, und es gibt Krieg?"
"Das befürchten wir."
"Das begreife ich nicht ganz." Ria verschränkte die Arme. "Welchen Grund sollten die Schatten haben, wieder einen Krieg zu beginnen? Wer sind sie? Und welches Ziel verfolgten sie?"
Delenn verzog unangenehm berührt das Gesicht. "Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass sie uns alle ins Chaos stürzen werden. Wir müssen sie stoppen."
"Wer sagt das?" fragte Rhiannon mit unüberhörbarem Sarkasmus.
"Die Vorlonen haben es uns gesagt, und wir haben es vor tausend Jahren schon gesehen."
Ria dachte eine Weile darüber nach, bevor sie antwortete. "Und ich bin hier, weil ich im Kampf gegen die Schatten helfen soll, nicht wahr?"
"Die Vorlonen haben uns prophezeit, dass die Menschen einen Schlüssel zum Sieg über den alten Feind haben", erwiderte Delenn sanft. "Wir haben es während des Krieges gegen die Erde erfahren, deshalb haben wir den Krieg auch beendet."
Sie musste unwillkürlich an die Worte von Kosh denken, die er gesagt hatte, als sie verzweifelt nach einem Weg gesucht hatte, diesen Irrsinn, der schon in Völkermord ausgeartet war, zu beenden.
Die Wahrheit zeigt auf sich selbst.
Delenn atmete tief durch. "Wir haben auch einen eindeutigen Beweis dafür bekommen: Wesen, die in früheren Leben Minbari waren, sind in menschlichen Körpern wiedergeboren worden."
Rhiannon sah sie überrascht an. Wir mussten herausfinden, ob du wirklich in Körper und Geist ein Mensch bist... Nun ergab alles einen Sinn!
"Aber ich bin ganz bestimmt hier, weil ich in einem früheren Leben eine Minbari gewesen bin. Du hast mir ja selbst gesagt, dass ich durch und durch ein Mensch bin. Ich fasse es einfach nicht! Du und der Rest des Grauen Rates habt mich die ganze Zeit nur benutzt. Ich war doch von Anfang an nur dafür bestimmt, gegen die Schatten zu kämpfen und euch zu helfen, gegen sie zu gewinnen!"
"Das ist nicht wahr", sagte Delenn verletzt, musste aber zugeben, dass Ria nicht ganz unrecht hatte. "Es ist deine Entscheidung, ob du uns beistehen willst oder nicht. Ich habe dir doch gesagt, dass du deine Wahl selbst treffen kannst."
"Welche Wahl denn?" entgegnete Rhiannon zynisch. "Glaubst du wirklich, jetzt, wo ich weiß, was mein Weg ist, gibt es für mich noch eine Wahl? Aber weißt du, was mir dabei wirklich weh tut? Dass du mir nicht alles schon viel früher erzählt hast, sondern erst, als es gar nicht mehr anders ging. Wann wolltest du mir denn alles erzählen? Wenn die Schatten Minbar angreifen? Ich kann es einfach nicht glauben, dass du mir so wenig Vertrauen entgegen bringst!"
"Du weißt genau, dass ich dir vertraue..."
"Ach, das weiß ich also", knurrte Ria.
Delenn schwieg eine Zeit lang. "Was hast du jetzt vor?" fragte sie schließlich ruhig.
"Was wohl?" erwiderte Rhiannon mit einer Kälte, die sie gar nicht empfand. In ihr brodelte heiße Wut. "Ich folge dem Weg meines Herzens. Ich werde zu den Anla'shok gehen und gegen die Schatten kämpfen."
"Bitte überleg dir das noch einmal", sagte Delenn fast flehend. "Es gibt auch noch andrer Möglichkeiten, um beim Kampf gegen die Schatten zu helfen, als Heilerin zum Beispiel. Außerdem weiß ich nicht einmal, ob die Anla'shok überhaupt Menschen bei sich dulden werden, und selbst wenn... es ist gefährlich!"
Sie wurden unterbrochen, da F'hurs Anoon zu ihnen kam.
"Satai Delenn, würden Sie bitte kommen? Die Debatte geht weiter."
"Ja, sofort." Und an ihre Pflegetochter gewandt: "Bitte warte auf mich. Wir sollten nach der Debatte noch einmal in aller Ruhe darüber reden,."
Ria gab keine Antwort. Sie würde nicht mehr da sein, wenn Delenn kam, um mit ihr zu reden.
Rhiannon hatte sich unbeachtet aus dem Regierungsgebäude schleichen können. Sie war auf direktem Weg nach Hause gegangen, um schnell einige Dinge zusammenzupacken. Sie wollte weg sein, ehe Delenn sie fand und sie aufhalten konnte.
Mit einem nur mit dem Allernötigsten bepackten Rucksack kam Ria die Treppe herunter. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, bevor Delenn sie finden würde. Rhiannon hatte einen dunklen Umhang mit großer Kapuze über ihre Kleidung gestreift, in dessen Tasche sie ihr Denn'bok gesteckt hatte, damit sie unerkannt bleiben konnte und niemand sofort sah, dass sie ein Mensch und keine Minbari war. Das war nicht einfach zu verbergen, denn ihr fehlte der auffällige knöcherne spitz zulaufende Kranz am Hinterkopf, und sie hatte ja auch Haare.
Bevor Ria das Haus nun endgültig verließ, sagte sie ihrem Kind Lebewohl und rief dann Inesval und Aidoann zu sich in die Eingangshalle, um mit ihnen zu reden.
"Bitte sorgt für Zora, als wäre sie euer eigenes Kind", wies sie die beiden Minbari an. "Beschützt sie, und erzieht sie gut. Und wenn sie alt genug ist, sagt ihr... sagt ihr, dass es mir leid tut."
"Was hast du vor?" fragte Inesval besorgt, obwohl es sehr indiskret war.
Rhiannon nahm keinen Anstoß daran. "Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Versprecht mir nur, dass ihr gut auf meine Tochter aufpassen werdet."
"Ja, natürlich werden wir uns um sie kümmern", sagte Aidoann. "Aber ich dachte, wir sind Freunde. Willst du uns denn nicht sagen, was los ist?"
"Sicher sind wir Freunde. Aber ich kann jetzt nicht reden. Und versucht nicht, mich aufzuhalten."
Ria umarmte die beiden zum Abschied schnell und streifte die Kapuze über. Dann verließ sie das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Vielleicht hätte sie es sich anders überlegt, hätte sie zurückgeschaut.
Rhiannon nahm die erstbeste Luftfähre nach Tuzanor. Sie wollte nicht Delenns privaten Atmosphärengleiter nehmen, weil sie nicht wusste wann und ob sie überhaupt wieder zurückkommen würde.
Die Reise nach Tuzanor dauerte nicht sehr lange, kaum fünfzehn Minuten. Sie mussten Richtung Süden fliegen, zwischen zwei schneebedeckten Bergen des Tchok'an Gebirges hindurch, das sich in einem schmalen Band über Hunderte von Kilometern bis nach Yedor hinauf erstreckte und jene Stadt zum Teil umschloss.
Als die beiden Berge hinter ihnen lagen, riskierte Rhiannon einen kurzen Blick hinaus. Da konnte sie vor sich auch schon die ersten Häuser von Tuzanor erkennen, und die fliegende Fähre setzte zur Landung an.
Tuzanor lag in einem hoch gelegenen Tal des Tchok'an Gebirges. Zwei der von hier sichtbaren Berggipfel ragten besonders weit in den Himmel.
Die Häuser von Tuzanor sahen zum Großteil ähnlich aus wie die Häuser in Yedor. Sie waren nur vielleicht ein wenig niederer, aber ebenfalls aus kristallinem Material und mit riesigen, kavernenartigen Räumen. Manche der Bauten waren zum Teil sogar in die nahen Felsen hinein gebaut worden und verschmolzen auf diese Art sozusagen mit der Landschaft.
In Tuzanor gab es unglaublich viele kleinere und größere Wasserfälle, winzige Flüsschen mit schmalen Stegen darüber, auch Fontänen und sogar zwei kleinere Seen. Natürlich gab es auch hier viele Parks und noch mehr Tempel (was nicht weiter verwunderlich war, denn die Stadt galt als heiliger Ort).
Die Leute von Tuzanor waren alles in allem merklich weniger hektisch als die Minbari in der Hauptstadt Yedor, außerdem freimütiger und mit Sicherheit sehr viel freundlicher. Rhiannon bedauerte es, dass sie jetzt nicht die Zeit hatte, um mit ihnen zu sprechen. Sie konnte es nicht riskieren, sich zu erkennen zu geben.
Es dauerte eine Weile, bis Ria schließlich herausfand, wo die Basis der Anla'shok war. Das Zentrum der Truppe befand sich auf einem hohen Plateau, überhalb der Stadt. Da es zur Zeit offenbar keine Flüge zum Lager der Anla'shok gab, musste sie sich einen Flieger mieten, was gar nicht so einfach war, ohne sich zu verraten.
Rhiannon landete den Gleiter außerhalb des Zentrums und versteckte ihn so gut wie möglich zwischen Büschen, denn sie wollte nicht unnötig auffallen.
Die Anla'shok-Basis war wirklich riesig und - wie eigentlich alles auf Minbar - unaufdringlich gebaut und perfekt an die Landschaft angepasst. Es gab auf dem Gelände komfortable Baracken, die insgesamt etwa neuntausend Personen beherbergen konnten Im Moment wurde allerdings nur eins der neun Gebäude genutzt, und selbst das nur zu einem kleinen Teil. Im Hintergrund waren drei wunderschöne Tempel zu sehen. Sie waren die höchsten Gebäude auf dem Gelände.
Zudem gab es da auch drei Trainingsfelder, inklusive kunstvoll ausgearbeiteter Hindernisparkure, spezielle Schießstände, Bereiche für das Überleben in der Wildnis, Überwachungstraining und für Übungen in kriegerischer Geschicklichkeit. Im Freien waren verschiedene Bereiche für Zielübungen, außerdem neun große Flugfelder mit dazugehörenden Hangar, die - bis auf einen - aber verschlossen waren.
In der Mitte der Basis stand ein riesiges Gebäude, in dem diverse Klassenräume und Büros untergebracht waren, die wiederum in Gruppen von dreien und neunen unterteilt worden waren.
Nur ein einziges Gebäude stand ganz allein für sich. Es war deutlich kleiner als die anderen Bauten auf dem Gelände.
Rhiannon konnte das Lager der Anla'shok problemlos betreten, denn es waren keine Wachen aufgestellt. Sie fand das sehr merkwürdig, da dies doch ein militärischer Stützpunkt sein sollte.
Genauer gesagt war hier eigentlich überhaupt niemand zu sehen. Die Basis wirkte seltsam verlassen, aber alles war offenbar sorgfältig instand gehalten worden. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, das Gelände nicht verkommen zu lassen.
Es war wirklich unheimlich, fast gespenstisch. Obwohl sie keine Leute sehen konnte, wurde Ria das komische Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurde. Aber niemand meldete sich.
Nach kurzem Nachdenken ging Rhiannon in einen der drei Tempel, weil sie dort am ehesten darauf hoffen konnte, auf einen der Anla'shok zu treffen. Aber als sie den Tempel betrat war auch hier keiner zu sehen.
In der Eingangshalle gab es einige steinerne niedere lehnenlose Bänke. Durch die hohen Fenster fiel das Licht des späten Nachmittags ein und bildete auf dem Boden Muster in allen Regenbogenfarben. Der Großteil der Halle lag aber im Schatten.
Ria betrachtete die Statue, die an der hinteren Wand der Eingangshalle stand. Sie zeigte ein ganz anderes Bild von Valen als die Statue in Yedor. Hier wirkte er grimmig, nicht gütig und weise, und er trug eine Art Uniform, darüber so etwas wie ein bodenlanger Umhang mit langen Ärmeln, an dem über der rechten Brust eine Brosche befestigt war.
"Was hast du hier zu suchen?" fragte jemand barsch.
Rhiannon drehte sich erschrocken Richtung Tor, von wo die Stimme gekommen war. Sie hatte nicht gehört, dass jemand den Tempel betreten hatte. Ein Minbari, der nach menschlichen Maßstäben in den Sechzigern zu sein schien, kam rasch und völlig lautlos näher.
"Ich komme in Frieden", sagte Rhiannon, und um ihre Worte zu untermauern hob sie die Hände und zeigte so, dass sie unbewaffnet war.
"Wenn das so ist, warum verdeckst du dann dein Gesicht?"
Der Minbari hatte sie inzwischen erreicht, doch Ria gab keine Antwort und rührte sich auch nicht von der Stelle. Er zog ihr mit einem Ruck die Kapuze weg, und seine Augen weiteten sich erstaunt.
"Aber... du bist ja ein Mensch!" rief er verblüfft aus.
"Richtig", erwiderte Ria. Sie machte keine Anstalten, ihr zerzaustes Haar in Ordnung zu bringen. Sie musterte ihr Gegenüber kurz und bemerkte an seiner Kleidung eine grüne Brosche mit silberner und goldener Fassung. "Und Sie sind ein Anla'shok, nicht wahr?"
Der Minbari kniff die Augen leicht zusammen. "Woher weißt du das?" Er durchsuchte sie, fand ihr Denn'bok und nahm es an sich.
"Das war nur eine Vermutung", erwiderte Rhiannon. "Sie tragen die gleiche Brosche wie Valen an dieser Statue."
"Los, komm mit mir", knurrte der Anla'shok und nahm ihr auch den Rucksack ab. "Du wirst mir jetzt eine Menge Fragen zu beantworten haben. Und versuche erst gar nicht zu fliehen. Du würdest nicht sehr weit kommen."
"Ich habe nicht vor, wegzulaufen."
Der Minbari packte Ria hart an und schubste sie grob vor sich her zu einem der freundlich hellen, weiten Büroräume, wo bereits vier Leute warteten.
"So, Sie haben unseren Eindringling also gefangen, Sech Turval, und es handelt sich sogar um einen Menschen", sagte eine von ihnen spöttisch. Die kriegerisch wirkende Frau war wohl in den Dreißigern und offenbar keine Anla'shok.
"Wie sie sehen können, Shakara", brummte er und drückte seine Gefangene sehr unsanft in knienden Sitz auf ein Kissen auf den Boden.
"Ihr wusstet also die ganze Zeit über, dass ich hier bin?" fragte Ria erstaunt.
"Ja." Turval ging lauernd um sie herum und sah sie durchdringend an. "Also: wer bist du, und warum bist du hier?"
Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Turval wurde ihr zusehends unheimlicher.
"Ich bin Rhiannon Jennings, Riann vom Clan der Mir. Satai Delenn schickt mich", sagte sie, wie sie es wohl schon hundert mal zuvor getan hatte, wenn sie in Delenns Auftrag und Namen unterwegs gewesen war. Nur war es diesmal eine glatte Lüge. "Sie ist meine Pflegemutter. Sie hat mir alles erzählt. Ich soll den Anla'shok beitreten."
"Was? Diese Göre ist Delenns Pflegetochter?" platzte es aus Shakara heraus.
Turval brachte sie mit einer kurzen Geste zum Schweigen. "Ich verstehe", sagte er und gab Rhiannon ihr Denn'bok und ihre Sachen zurück. "Und jetzt verlasse uns bitte, und komm nicht wieder."
"Nein, ich werde bleiben."
"Das wirst du nicht."
"Aber..."
"Ich dulde keinen Widerspruch", unterbrach er sie brüsk. "Geh!"
Ria blieb gar nichts anderes übrig als zu gehorchen. Sie bekam keine Möglichkeit zu protestieren, denn Turval hatte sie schon gepackt und beförderte sie grob vor die Tür.
Doch im Schutz der Dunkelheit, als alle schliefen, schlich sie sich wieder auf das Gelände zurück - auf die Gefahr hin, erneut hinausgeworfen oder diesmal endgültig verhaftet und bestraft zu werden. Offenbar hatte sie aber Glück. Niemand schien sie zu bemerken - jedenfalls bisher nicht.
Vorsichtig öffnete Ria die Tür zum Tempel und atmete erleichtert auf. Er schien leer zu sein. Rhiannon ging in die kleine Gebetshalle. Sie hoffte dort ein paar Meditationskissen zu finden, um aus ihnen eine Art Bett zu machen.
Ria wurde tatsächlich fündig. Sie schob einige der Kissen zusammen, und bald hatte sie sich ein halbwegs bequemes Lager gemacht. In ihren warmen Umhang gehüllt legte sie sich auf ihr provisorisches 'Bett'. Ihren Rucksack stellte sie neben sich. Rhiannon fragte sich kurz, was wohl geschehen würde, wenn die Anla'shok sie am Morgen fanden.
Nun ja, es würde bestimmt nicht so schlimm werden. Wenn sie ihr wirklich hätten etwas tun wollen, hätten sie es aller Wahrscheinlichkeit nach sicher schon längst getan.
Ria rollte sich seitlich zu einer Kugel zusammen, um mehr Wärme zu bekommen, denn es war hier ein wenig kalt. Sie schloss dann mit einem leisen Seufzen die Augen und kuschelte sich tiefer in die Kissen hinein.
Es dauerte nicht lange, bis Rhiannon fühlte, wie sich ihre Gedanken zu zerfasern begannen, als sie eindöste. Bald schon war sie in einen Schlaf gefallen, der von wirren und beängstigenden Träumen begleitet wurde...
Fortsetzung: Kapitel 28
Jennifer Fausek
17.09.2002
Website von Jennifer Fausek
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