Rhiannons Geschichte: 34. Kapitel
(von Jennifer Fausek)
Von nun an hatte Rhiannon keine ernsthaften Schwierigkeiten mehr mit Laiann. Es gab nur noch hin und wieder einige harmlose Geplänkel, die aber von beiden Seiten nicht ernst genommen wurden.
Und auch wenn sie beide es niemals zugegeben hätten, begann sich zwischen ihnen eine - etwas widerwillige - Freundschaft zu entwickeln.
Wie die anderen Leute aus ihrer Trainingseinheit freute sich Ria, dass sie den ersten - und gleichzeitig auch längsten - Ausbildungszyklus hinter sich hatten und demnächst die erste Pause anstand. In zehn Tagen, nach einem ganzen Monat härtesten Trainings, konnten die Auszubildenden für etwa drei Wochen tun und lassen, was sie wollten.
Allerdings wurden sie dabei angehalten wenn möglich an Manövern teilzunehmen oder die freie Zeit zur Fortsetzung von Studien zu benutzen, die sich später vielleicht als nützlich erweisen konnten. Und sie sollten darauf achten, dass sie das körperliche Training nicht vernachlässigten.
Rhiannon saß genau wie die anderen aus ihrer Gruppe in Meditationspose auf einem der etwa achtzig Zentimeter hohen und einen halben Meter breiten weißen Podeste, die bei Bedarf verschoben werden konnten. Sech Turval ging zwischen den Schülerinnen und Schülern hindurch, einen bambusartigen Rohrstock in der Hand.
Die Meditation hatte hier nicht nur die Aufgabe, die Auszubildenden in Einklang mit ihrer Umwelt zu bringen. Die Rekruten und Rekrutinnen sollten durch das Meditieren auch lernen, Atmung und Puls zu kontrollieren, beides zu verlangsamen, wenn es sein musste, um in einem Notfall mit sehr viel weniger Luft als gewöhnlich auszukommen oder einer beginnenden Panik oder einem Schock entgegenzuwirken.
Die ersten Male hatte Rhiannon Angst bekommen, als sie gemerkt hatte, dass ihr Puls und ihre Atmung langsamer gingen. Sie hatte das Gefühl gehabt zu ersticken und die Meditation jedesmal sofort wieder unterbrochen. Natürlich konnte ein menschlicher - und genauso ein minbarischer - Körper auf die Dauer nicht mit so wenig Sauerstoff auskommen, aber für eine Weile durchaus.
Mit der Zeit hatte sich Ria an diese Übung gewöhnt und sie konnte sich jederzeit in tiefe Meditation versetzen, wenn sie es wollte, auch wenn es sie immer noch große Überwindung kostete. Doch mit jedem Mal konnte sie es besser, und machte ihr weniger aus.
Gegen Ende der Meditationsstunde redete Sech Turval mit den Auszubildenden über das Mora'dum. 'Mora'dum' bedeutete grob übersetzt in etwa so viel wie 'Überwindung des Schreckens'.
Bei bestimmten Gelegenheiten, es wurde von Fall zu Fall entschieden, sollten Anla'shok, wenn sie in einem Einsatz verletzt wurden, zum Ort ihres persönlichen Schreckens zurückkehren, um sich dem zu stellen, selbst wenn es für sie den Tod bedeutete.
"Aber wieso sollten wir uns rächen?" fragte Rhiannon.
"Es geht dabei keineswegs einfach um Rache und schon gar nicht darum, jemanden zu töten", entgegnete Turval. "Wir müssen uns dem Schrecken stellen, der uns innerlich verkrüppelt überwinden."
"Soll das heißen, wir dürfen keine Angst haben?" wollte jemand anders wissen.
"Oh doch, sicher. Es wäre unnatürlich und in manchen Fällen sogar äußerst gefährlich, wenn ihr keine Angst haben würdet", sagte Turval geduldig. "Aber ihr solltet euch nicht von der Angst beherrschen lassen, sie allein euer Denken bestimmen lassen. Als Anla'shok sind wir sonst nutzlos."
"Wie können es aber doch nie wissen, ob wir es auch schaffen werden, in bestimmten Situationen die Angst im Zaum zu halten", meinte Hadenn.
"Es ist nicht wichtig es zu wissen, sondern allein es zu tun.", antwortete der ehrwürdige Lehrer. "Wenn ihr in einer schwierigen Situation zu lange nachdenkt und zweifelt, kann euch dieses Zögern am Ende noch zum Verhängnis werden."
"Das ist doch Unsinn", warf Nevill ein. "Wenn unser Gefühl sagt, wir sollen verschwinden, dann sollten wir das tun und nicht unnötig unser Leben riskieren, besonders dann nicht, wenn es dafür keinen triftigen Grund gibt."
"Wann gibt es denn einen triftigen Grund?" Sech Turval sah sie ruhig an. "Wir tun Dinge nicht nur dann, wenn sie unserem Ego entsprechen oder wir dafür Ruhm erwarten können. Es spielt keine Rolle, ob unsere Hilfe überhaupt bemerkt oder gar gewürdigt wird. Wir müssen Dinge tun, weil sie richtig sind, und nur deshalb..."
Nach der Meditationsstunde stand das Training mit dem Denn'bok an. Rhiannon mochte diesen Unterricht, obwohl es dabei noch am häufigsten zu Schrammen und blauen Flecken kam.
F'hursna Sech Duhran leitete das Training. Er war auch dafür zuständig, dass alle Anla'shok - oder zumindest diejenigen, die sich als würdig erwiesen - einen Kampfstab bekamen, auch die, die von ihren Eltern keinen hatten erben können. Es wurden ja Jahr für Jahr neue Denn'boks hergestellt, allerdings meistens nicht mehr, als um eventuell verloren gegangene zu ersetzen.
Am Anfang des Unterrichts standen normalerweise Stilübungen auf dem Plan, die ähnlich waren wir die Katas in den asiatischen Kampfsportarten, wobei bei diesen Übungen der Gegner nur in Gedanken existierte. Durch dieses spezielle Training sollte die Technik verfeinert werden. Zweikampf wurde dann mit verschiedenen Partnern geübt, wobei die Auszubildenden die ersten Kämpfe oftmals mit ihren Leitwölfen bestritten.
Rhiannon trainierte diesmal mit Shakara und war in der angreifenden Position. Ria schaffte es, die Kriegerin so in die Defensive zu drängen, dass sie einige Schritte zurückweichen musste. Rhiannon wollte gerade einen weiteren Angriff ansetzen, da lenkte eine Bewegung in den Augenwinkeln sie für eine Sekunde ab, und Shakara nutzte die Gelegenheit, holte ihrerseits zum Schlag aus und traf Ria mit voller Wucht am Handrücken.
"Verdammt!"
Sech Duhran unterbrach das Training sofort, als er diesen sehr menschlichen Ausruf hörte. "Was ist passiert?" fragte er, als er zu Rhiannon und Shakara hinüber ging.
Ria hielt sich die Hand, die bereits anschwoll. Ihr Denn'bok lag vor ihr auf dem Boden. "Ich fürchte, ich habe mir die Hand verletzt."
Duhran sah sich die Verletzung an und warf dann Shakara einen durchdringenden Blick zu. "Geh mit ihr zur Krankenabteilung", befahl er ihr. "Das muss untersucht werden. Ihr anderen macht mit dem Training weiter."
"Ja, Sech", brummte Shakara, während Rhiannon ihr Denn'bok aufhob und wegsteckte.
Die anderen machten - wie befohlen - mit dem Training weiter.
"Das hast du mit Absicht gemacht", knurrte Ria auf dem Weg zum zweiten der drei Tempel, in dem sich die gesamte medizinische Abteilung befand.
"In einem richtigen Einsatz wird mehr als nur deine Hand verletzt, wenn du nicht besser aufpasst!" entgegnete Shakara kühl. "Das habe ich dir schon oft genug gesagt."
Ria bedachte sie mit einem ganzen Schwall Worte und Verwünschungen auf Erdstandard und war im nachhinein heilfroh darüber, dass Shakara nichts von alledem verstanden hatte, denn sie hatte erst vor kurzer Zeit damit begonnen, die Sprache der Menschen zu studieren und konnte sie deshalb auch noch nicht besonders gut.
Rhiannons Befürchtungen bestätigten sich: die Hand war angebrochen, so dass sie wieder einmal für etwa drei Wochen einen Hartverband tragen musste, aber diesmal war es nicht so schlimm.
Sie konnte den Arm praktisch normal bewegen, da der Arm nicht über den Ellbogen hinweg ruhig gestellt werden musste, es waren ja nur die Handwurzelknochen angebrochen. Sie konnte sogar, auch wenn es sehr schwierig war, weiterhin am Training teilnehmen. Nur bei manchen Varianten des Hindernislaufs musste sie aussetzen oder Teile davon auslassen, und sie musste sich in den Übungsstunden mit dem Denn'bok und beim Krafttraining zurückhalten.
Um in Ruhe nachdenken zu können hatte sich Rhiannon auf das Dach ihrer Baracke zurückgezogen, wie sie es in den letzten Wochen schon des öfteren getan hatte, wenn sie hatte allein sein wollen.
Ria sah auf die bläulich schimmernde Stadt hinab und seufzte. Es war der letzte Abend vor der Pause, ab morgen würden die Auszubildenden ganze drei Wochen, sogar ein bisschen mehr für sich haben, viel Zeit, wie Rhiannon fand, vielleicht sogar zu viel. Ja, morgen würde sie endlich einige Dinge erledigen müssen, die sie eigentlich schon viel zu lange vor sich herschob und von denen sie wusste, es wäre besser gewesen, sie gleich zu bereinigen.
"Bitte lassen Sie mich allein."
Obwohl sich die Gestalt völlig lautlos bewegt hatte, hatte Rhiannon sie näherkommen gehört. Sie war nun schon lange genug hier, um die Anla'shok selbst dann zu hören und zu sehen, wenn sie eigentlich unentdeckt bleiben wollten. Und Ria erschrak längst nicht mehr, wenn jemand geräuschlos von hinten an sie herantrat oder mit Hilfe eines Tricks quasi aus dem Nichts vor ihr auftauchte, sie beherrschte diese Kniffe selbst schon, auch wenn sie noch Übung brauchte.
"Du ziehst dich die letzten Tage schon so zurück, Rekrutin", entgegnete Sech Turval und setzte sich zu ihr. "Vielleicht solltest du endlich einmal mit jemandem über das reden, was dich so dermaßen beschäftigt."
Der offizielle Tonfall stand im krassen Gegensatz zu dem freundlich forschenden Gesichtsausdruck, und Ria musste lächeln. "Ich habe mich entschlossen, gleich morgen so früh wie möglich nach Yedor zu fliegen und mit Delenn zu reden."
"Das ist gut."
Ria verzog das Gesicht. "Das wird sich erst herausstellen. Ich hoffe nur, sie will überhaupt noch mit mir reden. Ich wäre nicht überrascht wenn sie es nicht wollte."
Turval tätschelte beruhigend ihre rechte, gesunde Hand. "Das wird sie, mach dir keine Sorgen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hättet ihr euch längst ausgesprochen. Aber es war nötig, dass du die Zeit gehabt hast, um nachzudenken."
Sie nickte. "Das ist mir jetzt auch klar." Sie lächelte leicht. "Ich freue mich auch schon wahnsinnig darauf, meine kleine Tochter wiederzusehen. Inzwischen kann sie bestimmt schon laufen. Sie konnte ja schon alleine aufstehen, als ich sie das letzte Mal gesehen habe."
"Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir nach der Pause von den Fortschritten deiner Tochter erzählen würdest."
"Das werde ich", versprach Rhiannon.
"Was wirst du in der Pause sonst noch machen?" fragte Sech Turval.
"Karten studieren", antwortete sie nach kurzer Überlegung. "Ich bin nicht ganz sicher, aber ich denke, einige der Kolonien der Erdallianz und der Centauri liegen nicht weit weg von Z'ha'dum. Vielleicht könnten wir dort kleine Beobachtungsposten einrichten und ein Netz von V-Leuten - natürlich alles Minbari - auf die Beine stellen. Und möglicherweise können uns auch die Raiders, die Piraten helfen. Die haben ja Kontakt mit allem und jedem und stellen keine blöden Fragen."
"Deine Pläne in Ehren, Ria, aber du vergisst dabei eines: wir haben nicht einmal geeignete Schiffe für diese Art von Mission", entgegnete Turval. "Nicht mehr jedenfalls."
Rhiannon wurde hellhörig. ",Nicht mehr'? Heißt das, die Anla'shok hatten einmal eigene Schiffe?"
Der Lehrmeister nickte. "Vor langer Zeit. Aber das nützt uns heute nichts mehr."
Ria zuckte die Achseln und runzelte die Stirn. "Na gut, ich werde mich schon um dieses Problem kümmern, wenn es dann soweit ist."
Turval sah sie streng an. "Das ist deine Sache. Aber du wirst erst fliegen, wenn du deine Ausbildung vollständig abgeschlossen hast. Du bist immer noch ein Grünschnabel. Deshalb will ich nicht erleben, dass du die Pausen nutzt, um auf die Suche nach den Schatten zu gehen und so dein Leben unnütz aufs Spiel setzt. Dazu wirst du später, befürchte ich, ohnehin noch reichlich Gelegenheit haben. Haben wir uns verstanden?"
"Ja Meister." Rhiannon war ein wenig beleidigt. Sie verabscheute es, als 'Grünschnabel' oder 'Göre' bezeichnet zu werden, auch wenn es die Wahrheit war. Es gab noch so vieles, das sie zu lernen hatte.
"Gut", entgegnete Turval und nickte zufrieden. "Sobald du deine Ausbildung abgeschlossen hast und du keine anders lautenden Befehle bekommst, kannst du natürlich auf die Suche nach den Schatten gehen, so oft und wann immer du willst. Und wenn du unterwegs bist... fliege niemals direkt nach Z'ha'dum. Bisher ist noch nie jemand von dort wieder lebend zurückgekommen."
Ria sah ihn nachdenklich an. "Genauso wenig wie von Vorlon. Die Erde hat drei Schiffe zu den Vorlonen geschickt, und keines von ihnen ist je zurückgekehrt. Offiziell heißt es, sie seien Unfällen zum Opfer gefallen und die Besatzungen getötet worden, aber irgendwie bezweifele ich das sehr. Immerhin haben die Vorlonen die Erde davor gewarnt, weitere Schiffe zu schicken. Ich würde nur zu gerne wissen, was da wirklich passiert ist."
"Das kann ich dir leider auch nicht sagen", erwiderte Sech Turval bedauernd. "Das müsstest du schon die Vorlonen fragen."
"Ja, aber die würden es mir bestimmt nicht verraten", meinte Rhiannon und kaute nachdenklich auf ihrer Lippe herum. "Irgend etwas verbergen die."
Turval sah sie fast schockiert an. "Wir haben keinen Grund, ihnen zu misstrauen. Die Vorlonen sind seit tausend Jahren unsere Verbündeten."
Ria lächelte zynisch. "Ich weiß, ich weiß, weil sie die Feinde der Schatten sind. Und der Feind meines Feindes ist mein Freund."
"Das ist eine sehr... eigenwillige Betrachtungsweise."
"Kann sein. Aber wer sagt mir, dass ich nicht Recht habe? Abgesehen davon ist es für mich noch nicht bewiesen, dass die Schatten existieren. Sie sind nur eine Legende."
Er sah sie fest an. "Ja, genau wie die Anla'shok."
Sie erwiderte den Blick nachdenklich.
Fortsetzung: Kapitel 35
Jennifer Fausek
17.09.2002
Website von Jennifer Fausek
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