Rhiannons Geschichte (2. Band): 1. Kapitel
(von Jennifer Fausek)
Lennier vom dritten Tempel von Chudomo war noch sehr jung, kaum Mitte zwanzig nach menschlichem Maßstab, aber er war bereits voll ausgebildeter Priester und seit zwei Monaten auch ein Meisteradept der Wahrscheinlichkeitsgesetze.
Nun sollte er die Zurückgezogenheit seines Klosters verlassen und als Attaché von Botschafterin Delenn nach Babylon 5 gehen. Er hatte sich sehr geehrt gefühlt, als ihm diese Position angeboten worden war. Es war eine wichtige Aufgabe für jemanden, der so jung war. Lennier war sich sicher, dass er viel von Delenn lernen konnte.
Delenn war nämlich nicht nur eine einfache Botschafterin sondern auch eine Satai, ein Mitglied des sogenannten Grauen Rates, der neunköpfigen Regierung Minbars.
Lennier hatte in Erfahrung gebracht, dass Delenn eine Pflegetochter hatte, die ein Mensch war. Sie wurde von allen nur ,Riann' genannt. Es war an und für sich ein ganz normaler minbarischer Name. Er bedeutete allerdings so viel wie ,Fremde', ,Eindringling' oder ,eine, die hier nicht hergehört'.
Lennier brachte den Menschen eher zwiespältige Gefühle entgegen. Während des Krieges gegen die Erde waren viele Mitglieder seines Clans getötet worden. Seit seiner Geburt war er im Tempel erzogen worden.
Bisher war Lennier noch nie persönlich einem Menschen begegnet. Er beherrschte zwar ihre Sprache, wusste sonst aber so gut wie gar nichts über sie.
Und genau das war sein Problem. Auf Babylon 5 würde er mit Sicherheit laufend mit Menschen zu tun haben, und er hatte keine Ahnung, wie er sich ihnen gegenüber verhalten sollte.
Deshalb wollte Lennier diese Riann aufspüren und sie um Rat fragen. Schließlich war sie ein Mensch. Und wer wusste besser über Menschen Bescheid als ein Mensch? Und welcher Mensch konnte ihm da besser helfen als Delenns Pflegetochter Riann, die sich in beiden Kulturen Zuhause fühlen musste.
Es gab dabei nur einen Haken. Wie es hieß, war Riann - obwohl sie eine Außenweltlerin war - eine Anla`shok. Wenn das wahr sein sollte, würde es nicht leicht werden, sie ausfindig zu machen. Lennier kannte die Legenden, nach denen Anla`shok nur dann gesehen wurden, wenn sie es so wollten. Wenn Riann es also ablehnte, mit ihm zu sprechen wären alle seine Bemühungen umsonst gewesen.
Lennier flog mit einem öffentlichen Flieger nach Tuzanor, denn bei dieser Stadt lag die Basis der Anla`shok. Dort konnte er am ehesten darauf hoffen, auf Riann zu treffen.
Bisher hatte Lennier sein Kloster kaum einmal verlassen und aus Chudomo, geschweige denn von Minbar war er überhaupt noch nie weggekommen, abgesehen vom Flugtraining mit der Kriegerkaste, und das zählte nicht wirklich.
In Tuzanor dauerte es nicht lange, bis Lennier jemanden fand, der bereit war, ihn auf dem Plateau beim Anla`shok Lager abzusetzen, denn die Leute waren alle sehr hilfsbereit.
Lennier kam sich aber etwas verlassen vor, als er ganz alleine vor dem Tor zur Basis stand. Kaum hatte er das Gelände betreten, kam ihm auch schon ein alter Anla?shok entgegen, der ihn freundlich, aber sehr gründlich musterte.
"Wie kann ich dir helfen, Priester?"
Lennier verneigte sich tief. "Bitte, können Sie mir sagen wo ich Anla`shok Riann finden kann? Ich würde gerne mit ihr sprechen. Ich bin Lennier vom Dritten Tempel von Chudomo, und ich werde der Attaché von Satai Delenn sein."
"Soso", sagte der Anla`shok vieldeutig und überlegte. "Versuche es doch einmal im Ersten Tempel, ich habe sie vor kurzem dorthin gehen sehen. Es ist einer ihrer Lieblingsplätze. Vielleicht ist sie ja noch dort, Wenn nicht, musst du dich eben durchfragen."
"Vielen Dank, Meister", entgegnete Lennier und verneigte sich erneut.
"Keine Ursache."
Er hatte tatsächlich Glück. Riann saß auf einer Bank nahe der hinteren Wand in der Eingangshalle des Tempels und spielte mit einem kleinen menschlichen Kind, es war vermutlich ihr eigenes. Lennier konnte nicht sagen, ob es nun ein Mädchen oder ein Junge war. Bei Menschen ließ sich das nicht einfach wie bei Minbari durch die Form des knöchernen Kranzes am Hinterkopf bestimmen, der bei weiblichen Minbari eine Spitze und bei männlichen drei Spitzen hatte.
Eine Zeit lang beobachtete Lennier die beiden Menschen. Er wusste einfach nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte. Riann hatte ihn offenbar noch nicht bemerkt.
Rhiannon Jennings, genannt Riann, musterte den jungen Minbari, der sie die ganze Zeit über ansah, aus den Augenwinkeln. Er schien nur etwa zwei Jahre älter zu sein als sie selbst. Der Kleidung nach zu urteilen war er ein Priester. Eine Weile ließ sich Rhiannon die neugierigen Blicke des jungen Geistlichen gefallen, doch schließlich wurde es ihr zu bunt.
Lennier bemerkte, wie zärtlich und liebevoll Riann mit dem Kind war. Offenbar war auch den Menschen die Familie sehr wichtig.
Für einige Augenblicke drehte Lennier den Kopf weg, um die imposante Statue von Valen genauer betrachten zu können. Als er dann wieder zu Riann hinüber sah, war sie verschwunden! Aber das Kleine spielte seelenruhig weiter und schien sich alleine überhaupt nicht zu ängstigen.
Lennier ging verblüfft auf das Kind zu.
"Suchst du vielleicht jemanden?" hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich.
Er drehte sich überrascht um, denn da stand Riann vor ihm. Sie hatte die Hände verschränkt und musterte ihn forschend von oben bis unten.
"Anla`shok Riann?" fragte Lennier vorsichtig.
Sie deutete ironisch eine Verbeugung an. "Die bin ich. Aber dass das klar ist, mein richtiger Name lautet Rhiannon Jennings, also nenn mich bitte auch Rhiannon."
"Natürlich, wie du willst."
Rhiannon blickte ihn belustigt an. "Und was willst du von mir?"
"Ich bin Lennier, vom Dritten Tempel von Chudomo", sagte er. "Ich werde der Attaché von Satai Delenn sein."
Ria nahm eine entspannte Haltung an. "Aha. Gehst du freiwillig nach Babylon 5 oder wirst du für etwas bestraft?"
Lennier sah sie irritiert an. "Ich verstehe nicht ganz. Es ist doch eine Ehre Satai Delenn zu dienen..."
"Ich rede nicht von Satai Delenn." Sie lächelte spöttisch. "Ich rede von Babylon 5. Auf der Erde schließen die Leute bereits Wetten darüber ab, wie lange es dauert, bis die Station zerstört wird. Die Wetten stehen bis zu fünfhundert zu eins, dass das innerhalb der nächsten sechs Monate passiert."
Lennier sah sie schockiert an. "Wenn die Menschen so über das Babylon-Projekt denken, wieso haben sie dann die Station überhaupt gebaut?"
Rhiannon grinste. "Um zu sehen, wer recht hat." Sie winkte ab, als sie Lenniers entsetzten Gesichtsausdruck sah. "Schon gut, das war nur Spaß. Wie kann ich dir helfen?"
"Ich würde gerne mehr über die Menschen erfahren."
"Ah ja." Sie gingen zu Rias Kind, der zweijährigen Zora. Während die Erwachsenen sich auf eine der steinernen Bänke setzten, spielte die Kleine auf dem Boden mit Bauklötzen.
"Lass mich raten", brummte Ria. "Indem du mich ausfragst, willst du deine mangelnde Erfahrung ausgleichen, damit du auf der Station nicht versehentlich in ein Fettnäpfchen trittst."
"Na ja." Lennier war ein wenig verlegen. "Ich hatte gehofft, dass du mir einige Verhaltensregeln erklären kannst. Mir mangelt es tatsächlich noch an Erfahrung."
"Das habe ich mir fast gedacht." Rhiannon musterte ihn ohne zu erkennen zu geben was sie wirklich von ihm hielt. "Du bist viel zu arglos, das kann dich an einem Ort wie Babylon 5 ganz schnell das Leben kosten."
"Soll das heißen, du hältst mich nicht für geeignet?"
"Oh nein, ich glaube, du bist die beste Wahl. Sonst wärst du bestimmt nicht ausgewählt worden", erwiderte Ria. "Aber selbst wenn ich nicht so denken würde... Was würde das für eine Rolle spielen? Mir musst du gar nicht beweisen. Und ich bin sicher, du bist gut ausgebildet worden."
Lennier gab sich damit zufrieden. "Dann wirst du mir also helfen?"
"Sicher, was willst du wissen?"
"Wie begrüßen sich Menschen?" fragte Lennier nach kurzer Überlegung. "Ich meine damit nicht die Worte, die Sprache beherrsche ich, ich meine, gibt es eine spezielle Geste, ein Begrüßungsritual?"
"Die Menschen erwarten nicht von dir, dass du dich wie sie benimmst. Sie sehen ja, dass du ein Minbari bist." Rhiannon stand auf und ging ein Stück beiseite. "Aber ich kann dir gerne zeigen, wie sich Menschen begrüßen. Menschen reichen einander zur Begrüßung und zum Abschied die Hand. Das tun sie auch, wenn sie ein Versprechen besiegeln. Diese Geste ist sowohl höflich als auch freundschaftlich und zeigt den guten Willen."
Sie streckte ihm spontan die Hand entgegen. Lennier kam zu ihr und ergriff die dargebotene Hand. Im nächsten Augenblick lag er auch schon mit dem Rücken auf dem Boden. Ria war über ihm, hielt ihn mit einem Arm fest, und die andere Hand berührte seine Kehle leicht.
"Ich würde vorschlagen, du bleibst bei der minbarischen Verbeugung", sagte Rhiannon gelassen. "Wie du siehst, hat der menschliche Händedruck seine Tücken."
Sie richtete sich auf und zog Lennier gleichzeitig auf die Beine. Sie schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln, um ihn versöhnlich zu stimmen.
Er ließ sie los. "Ich werde es mir merken." Er war immer noch überrascht, dass es einem Menschen, der körperlich gesehen schwächer war als ein Minbari, es geschafft hatte, ihn so einfach zu überrumpeln. Noch dazu, wo er doch in sämtlichen minbarischen Arten der Selbstverteidigung ausgebildet worden war. "Ich war nicht vorbereitet. Ich hätte nicht gedacht, dass du es schaffen würdest, mich so einfach zu überlisten..."
"...weil ich nur ein Mensch bin", setzte Ria hinzu und ließ sich wieder auf die steinerne Bank plumpsen.
"Das habe ich nicht gesagt", entgegnete Lennier unangenehm berührt und nahm ebenfalls Platz.
"Nein." Sie sah nicht ihn, sondern ihre kleine Tochter an, die gerade einen Turm mit ihren Bauklötzen baute und die beiden Erwachsenen überhaupt nicht beachtete. "Aber du hast es gedacht."
Lennier musste zugeben, dass Rhiannon damit vollkommen recht hatte. Dabei tat er sein bestes, um seine Vorurteile gegenüber den Menschen abzubauen. "Tut mir leid, ich habe wohl noch viel über Menschen lernen."
"Oh, das wirst du schon", meinte Rhiannon. "Und du wirst garantiert auch schnell herausfinden, welchen Menschen du trauen kannst und welchen nicht."
"Und wie finde ich das heraus?"
Sie blickte zu ihm auf. "Stelle indiskrete Fragen."
Lennier sah sie zweifelnd an. "Das wäre aber sehr ungehörig."
Ria lachte leise. "Nur wer unbequeme Fragen stellt bekommt die wichtigen Antworten. Das hat meine Mutter immer gesagt. Und solange du nichts intimes fragst, kannst du auch nicht ins Fettnäpfchen treten. Glaube mir, die Menschen lassen es dich schon wissen, wenn sie nicht antworten wollen."
"Danke für diesen Rat, ich werde ihn beherzigen."
"Keine Ursache", erwiderte Rhiannon. "Wann fliegst du eigentlich?"
"Morgen nacht von Yedor aus", antwortete Lennier. "Mit einem Transportschiff."
Ria hob missbilligend die Brauen. "Nicht mit einem Passagierschiff?"
Lennier schüttelte den Kopf. "Es fliegen noch keine Passagierkreuzer zwischen Minbar und Babylon 5. Außerdem hat die Glänzender Stern ein Passagierdeck."
"Na dann..." Rhiannon überlegte kurz. "Ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn du für diese Nacht mein Gast wärst. Du musst wissen, ich lebe nicht hier im Lager sondern in Yedor. Das würde dir zusätzliche Fliegerei ersparen."
"Ich nehme dein Angebot gerne an." Lennier deutete eine Verbeugung an. Er zögerte. "Warum lebst du nicht hier sondern in Yedor?" fragte er vorsichtig.
"Weil meine Familie dort wohnt", erklärte Ria. "Aber ehrlich gesagt, es wäre mir schon lieber, mein Clan würde in Tuzanor leben. Nur wollen sie leider nicht umziehen, und ich beuge mich dem Entschluss, vor allem wegen meinem Kind. Sie soll die Geborgenheit einer Familie kennen und nicht allein in Tuzanor und schon gar nicht im Lager aufwachsen."
Lennier war erstaunt über diese Offenheit. "Aber trotzdem nimmst du sie hier her mit..."
Rhiannon lächelte der kleinen Zora liebevoll zu und half ihr ein wenig mit den Holzblöcken. "O ja, aber auch nicht immer..." Sie wandte sich an das Kind. "Mäuschen, komm, wir müssen jetzt gehen. Du kannst daheim weiter spielen."
"Okay." Zora sah neugierig zu Lennier. "Kommt er auch?"
Ria strich ihr übers Haar. "Ja, mein Schatz. Priester Lennier kommt mit." Sie nahm eine Stofftasche aus ihrer Uniformweste und packte die Bauklötze ein.
Sobald Rhiannon Zora zu Hause zu Bett gebracht hatte, setzten sich Ria und Lennier zusammen, um weiter über die Menschen zu reden.
Am nächsten Morgen nahm Nistel Zora mit in den Tempel. So hatte Rhiannon und Lennier genug Zeit, um seine letzten Fragen zu klären.
Am Abend begleitete Ria Lennier zum Raumflughafen von Yedor, aus reiner Höflichkeit, weil er sich nicht auskannte.
"Bevor ich es vergesse", sagte Ria, als sie sich am Gateway zu den Plattformen verabschiedeten. "Richte Delenn einen schönen Gruß von mir aus und dass alles in Ordnung ist."
"Das werde ich", versprach Lennier. "Und danke für deine Gastfreundschaft."
"Keine Ursache."
Sie verneigten sich voreinander, und Lennier verschwand im Gateway.
Fortsetzung: Kapitel 2
Jennifer Fausek
30.10.2002
Website von Jennifer Fausek
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