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Rhiannons Geschichte (2. Band):
12. Kapitel

(von Jennifer Fausek)

Wenn William am Morgen erwachte, war Rhiannon meistens schon weg. Gelegentlich nahm sie Zora mit und kam dann erst im Laufe des Nachmittags wieder zurück.
An einem dunklen Morgen mitten im Winter weckte Ria ihn auf, und das eine ganze Stunde, bevor er normalerweise aufstand. Sie war schon vollständig angekleidet. Sie trug ihre braune und schwarze Uniform.
"Was ist los?" murmelte Will verschlafen.
"Komm, steh auf. Ich will dir heute meine Arbeit zeigen."
Mit einem Mal war er hellwach. "Ist das dein Ernst?"
Rhiannon nickte. "Ich habe es mir schon gestern abend vorgenommen. Ich habe die Erlaubnis nämlich bekommen."
William setzte sich auf. "Und warum hast du mir das nicht schon gestern gesagt?"
"Weil du mich dann bestimmt ausgefragt hättest. Aber vieles kann ich dir nicht erklären. Du musst es sehen um es zu begreifen."
"Und wann geht's los?" Will stand auf und gab seiner Frau einen Kuss.
"Sobald du fertig bist", entgegnete Ria. Es klang ein wenig grimmig. "Und zieh dich bitte warm an. In den Bergen ist es noch viel kälter als hier."
"Ja, gut."
Eine halbe Stunde später konnten sie aufbrechen. Sie ließen Zora bei Nistel, damit sie sich in aller Ruhe unterhalten konnten und nicht von einem Kind ständig abgelenkt wurden.
"Wohin fliegen wir eigentlich?" fragte William, als sie im Atmosphärengleiter saßen und Rhiannon die Startsequenz eingab.
Ria deutete ein Lächeln an. "Zur ,Stadt des Kummers'."
"Stadt des Kummers?" Will sah sie erstaunt an.
Sie nickte und brachte den Gleiter in die Luft. "Oder Tuzanor, wie das minbarische Wort dafür lautet. Wie die Stadt zu ihrem Namen gekommen ist wirst du später bestimmt noch oft genug hören."
"Und in Tuzanor arbeitest du als - wie hast du es gleich genannt? - als eine Art Ranger?" erkundigte sich William.
"Nicht ganz." Rhiannon zog den Steuerknüppel weiter hoch, bis sie auf etwa zweitausend Meter Flughöhe waren und setzte Kurs Richtung Süden. "Bei Tuzanor liegt nur die Basis der Anla'Shok, wie wir auf minbari genannt werden. Unsere Tätigkeit findet nicht an einem bestimmten Ort statt. Wir wirken, wo immer es nötig ist."
"Was genau ist euere Aufgabe?"
"Zu beobachten, zu vermitteln, zu beschützen und wenn nötig zu kämpfen", sagte Ria. "Und das alles möglichst ohne dabei aufzufallen... Ich werde dir den Rest in der Basis erzählen, das ist einfacher."
"Wie du willst." William musterte sie ein wenig besorgt. "Und es hat wirklich niemand etwas dagegen, dass ich mitkomme?"
"Einige schon", antwortete Rhiannon unverblümt. "Aber mach dir keine Sorgen, über mich waren sie am Anfang auch nicht gerade glücklich. Aber die meisten Leute dort sind nett, auch wenn sie etwas zurückhaltend sind."
Als sie in der Basis ankamen merkte Will sofort, dass Ria bei den Anla'Shok in ihrem Element war. Es war ganz offensichtlich, dass sie bei ihnen zu Hause war. Sie wurde auch sofort herzlich begrüßt.
William hingegen brachten die Leute nur zurückhaltende Neugierde entgegen. Sie sprachen kaum mit ihm.
Rhiannon zeigte ihrem Mann das gesamte Gelände und sagte ihm viel über die Anla'Shok. Zögernd erzählte sie schließlich auch von den Schatten und der Bedrohung durch sie. Zuerst konnte Will nicht glauben, was seine Frau ihm da erzählte.
"Das ist doch verrückt!" rief er schockiert aus. "Es soll bald einen schrecklichen Krieg geben?"
"Ich habe auch lange Zeit gedacht, die Schatten wären nur ein Mythos. Doch dann bin ich ihnen begegnet, und ich habe gesehen wozu sie fähig sind, auch wenn sie ihre Kräfte noch nicht gesammelt haben."
"Moment mal! Soll das heißen, die Schatten... sie existieren wirklich, und du bist ihnen sogar schon begegnet?" Will sah sie skeptisch an.
Ria nickte düster. "Allerdings. Ich hatte mehr Glück als Verstand, dass ich das überlebt habe. Ich habe das Schiff nur mit einem Trick zerstören können. Wie es aussieht sind Tricks die einzige Möglichkeit um mit ihnen fertig zu werden. Wie ich dir schon gesagt habe, weiß ich leider immer noch nicht, wer die Schatten sind oder was sie wollen. Um das herauszufinden bin ich damals zu den Anla'Shok gegangen. Und natürlich auch, weil ich denke, dass es das Richtige ist, denn es ist der Weg meines Herzens."
William überlegte eine Weile. "Du hast gesagt, dass die Minbari denken, dass die Menschen einen der Schlüssel zum Sieg über die Schatten haben."
"So lautet jedenfalls die Prophezeiung." Ria zuckte die Achseln. "Wie oder ob sie sich schlussendlich erfüllen wird, muss sich aber erst zeigen."
"Wie auch immer", murmelte Will nachdenklich. "Und du hast auch gesagt, dass es keinen Weg mehr zurück gibt, wenn ich erst einmal die Wahrheit kenne." Er sah auf. "Ich denke, du hattest damit Recht. Ich möchte auch zu den Anla'Shok gehen."
"Bitte lass dir Zeit mit dieser Entscheidung." Ria blickte ihn kummervoll an. "Dir liegt doch gar nichts an so viel Verantwortung..."
"Falsch!" unterbrach William sie. "Mir liegt nichts am Familienunternehmen meiner Eltern. Das hier ist etwas ganz anderes."
Sie rollte die Augen gegen den Himmel. "Dann denk doch wenigstens an Zora. Ich will nicht, dass sie plötzlich ohne Eltern dasteht."
"Genau für sie möchte ich das auch machen." Will verschränkte die Arme. "Und glaubst du im Ernst, ich lasse dich die Last alleine tragen, jetzt wo ich die Wahrheit kenne? Ich werde sicher nicht untätig herumsitzen, während du Tag für Tag dein Leben riskierst!"
Rhiannon war leicht verärgert. "Wenn du unbedingt zu den Anla'Shok gehen willst, darfst du das nur tun weil es der Weg deines Herzens ist, nicht weil du dich dazu verpflichtet fühlst. Sonst wirst du es sicher eines Tages bitter bereuen."
"Das hast du mir schon gesagt." Will küsste sie auf die Schläfe. "Ich werde trotzdem bleiben. Egal ob ich es irgendwann bereuen werde oder nicht, ihr werdet alle Hilfe brauchen die ihr kriegen könnt."
"Na schön." Ria gab sich geschlagen. "Ich werde dich zu Sech Turval bringen. Er begutachtet alle Neulinge und entscheidet, wer bleiben darf und wer nicht."
"Danke."
Sie fanden den ehrwürdigen Lehrer in seinem großen Büro. Mehr als eine Minute lang musterte Turval Rhiannon Ehemann ohne dabei die geringste Gefühlsregung zu zeigen.
"So, du willst also ein Anla'Shok werden", sagte der alte Lehrer schließlich.
"Ja, Meister", entgegnete William so höflich wie möglich. "Das heißt, wenn Sie mich aufnehmen werden."
"Ich glaube es spricht eigentlich nichts dagegen." Turval lächelte dünn und stand von seinem Platz auf. "Wenn du bereit bist, werden wir uns jetzt das Training anschauen, damit du einen ersten Eindruck davon bekommst, was dich in den nächsten Monaten erwartet."
William verneigte sich leicht. "Das wäre nett."
"Ich werde auch mitkommen", verkündete Rhiannon.
"Wie du willst."
Will bemerkte den merkwürdigen Blick, den sich die beiden Anla'Shok zuwarfen. Er sah verwirrt von einem zum anderem. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass sie ihm etwas Wichtiges verschwiegen.
Sie gingen durch die Schulungsräume und Trainingsplätze und sahen den verschiedenen Einheiten bei ihren Lektionen zu.
Schließlich kamen Turval, Ria und William zu einer der großen Trainingshallen, wo gerade eine Gruppe mit dem Denn'bok übte.
"Streng dich gefälligst an", schimpfte eine Kriegerin. Rhiannon erkannte die Stimme sofort. Es war Shakara, ihre frühere Betreuerin.
William sah, wie Shakara einen jungen Rekruten förmlich verprügelte. Aber niemanden schien das zu kümmern. Shakara fauchte ihren Schüler auch weiterhin an und schlug mit voller Wucht auf ihn ein.
Langsam wurde Will nervös. Warum griff niemand in diesen Kampf ein, bevor jemand ernsthaft verletzt oder gar getötet wurde?
Da ging der junge Bursche zu Boden, und der Kampfstab wurde ihm aus der Hand geschleudert. Das Denn'bok fiel William direkt vor die Füße.
Da wurde es Will doch zu viel. Ohne lange nachzudenken ergriff er den Kampfstab und ging damit auf Shakara los.
"Hey, hören Sie endlich auf, Sie tun ihm weh!" schrie er sie an.
"Mach, dass du hier wegkommst!" knurrte die Kriegerin.
"Nein", entgegnete Will und wehrte ungeschickt ihren Schlag ab. "Ich werde nicht zulassen, dass Sie ihn weiter verprügeln. Versuchen Sie's doch mal mit jemand, der Ihnen gewachsen ist."
Shakara lachte höhnisch. "Du glaubst also, du bist mir gewachsen?!"
Will blieb nicht die Zeit um zu antworten. Shakara ging nun mit ihrem Denn'bok auf ihn los. William tat sein bestes, um ihre Schläge abzuwehren, schaffte es aber nur mit größter Mühe.
Die Kriegerin landete einen Treffer nach dem anderen. Innerhalb kürzester Zeit hatte Will das Gefühl, dass es keinen Fleck an seinem Körper gab, der ihm nicht weh tat.
Je länger der Kampf dauerte, desto klarer wurde ihm, dass Shakara mit ihm Katz und Maus spielte. Sie hatte offenbar ihren Spaß daran, denn sie grinste.
William wusste, dass sie ihr hoffnungslos unterlegen war. Er fragte sich, warum sie dem ganzen nicht schon längst ein Ende gesetzt hatte.
In der selben Sekunde hatte die Kriegerin ihm schon den Kampfstab aus der Hand geschleudert und ihn zu Fall gebracht. Sie drückte ihm das Denn'bok gegen die Kehle, so dass ihm das Atmen äußerst schwer fiel. Er hielt den Stab mit beiden Händen um den Druck zu verringern.
Shakaras Augen blitzten zornig. "Dass du dich eingemischt hast war ein großer Fehler. Dafür wirst du die Konsequenzen tragen."
William wusste genau, sie würde ihn töten, wenn kein Wunder geschah. Aus irgendeinem Grund war ihm klar, dass ihm jetzt niemand helfen würde. Mit letzter Kraft stieß er das Denn'bok weg, um sich zu befreien.
Es klappte! Shakara taumelte durch die Wucht des Stoßes von ihm weg. Will kroch zu seinem Kampfstab und tat sein bestes, um so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kommen.
"Es ist genug", mischte sich Turval ein, als sich William auf einen weiteren Angriff von Shakara vorbereitete.
"Gut." Von einer Sekunde zur nächsten verschwand die Wut aus Shakaras Gesicht, und sie steckte ihr Denn'bok weg. Sie lächelte Will spöttisch zu.
Turval schmunzelte. "Ich gratuliere, du hast den Test bestanden."
"Was?"
William sah sich verwirrt um. Der junge Minbari, den Shakara augenscheinlich so schlimm verprügelt hatte, stand auf und grinste breit. Ihm schien überhaupt nichts zu fehlen. Er verneigte sich fröhlich und kehrte zu seiner Gruppe zurück.
"Wir wollten sehen wie du reagierst, wenn jemand in Schwierigkeiten gerät. Ob du hilfst oder einfach nur tatenlos zusiehst", erklärte Turval. "Hättest du nicht eingegriffen, hättest du die Prüfung nicht bestanden. Wir hätten dich wegschicken müssen. Ein Anla'Shok hat viel Verantwortung sich und den anderen gegenüber, das darfst du nie vergessen."
"Ich glaub's einfach nicht!" Will war fassungslos. "Das ganze war nur Show um mich zu testen? Das war nicht lustig!"
"Wenn du tatsächlich bleiben willst solltest du dich besser schon mal an solche Überraschungen gewöhnen", meinte Rhiannon. "Das ist hier die gängige Lehrmethode."
William zuckte zusammen. Er hatte ja einiges erwartet, aber das nicht. Er fragte sich, worauf er sich da eigentlich einließ. Er begann zu begreifen, warum niemand leichtfertig zu den Anla'Shok gehen sollte.
"Bedeutet das, dass ich bleiben darf?"
"Wenn du bleiben möchtest..." erwiderte Sech Turval.
Will sah auf. "Ja, ich habe mich doch nicht umsonst verprügeln lassen."
"Aber denk dran, du solltest nur bleiben, wenn du dir sicher bist, dass es der Weg deines Herzens ist", warnte Turval. "Sonst wirst du hier kein Glück haben."
"Ich werde es mir merken", sagte William fest.
"In den nächsten Tagen beginnt eine neue Gruppe ihre Ausbildung." Turval lächelte dünn. "Du kannst mit ihr beginnen. Du kannst schon heute da bleiben, wenn du möchtest und dich vorbereiten. Ich versichere dir, die nächsten Monate wirst du hart arbeiten müssen."
Will verneigte sich. "Vielen Dank. Ich werde das Angebot annehmen und gleich hier bleiben."
Shakara, die das Gespräch mit angehört hatte, lachte. "Nur zu Schade, dass ich bei der Willkommenszeremonie nicht mehr dabei sein werde. Noch ein Mensch bei den Anla'Shok, das wird bestimmt interessant."
"Wieso wirst du nicht dabei sein?" wollte Ria wissen.
"Heute geht meine Zeit bei den Anla'Shok zu Ende", erklärte die Kriegerin. "Ab morgen habe ich andere Aufgaben."
"Davon hast du mir ja gar nichts gesagt." Ria war überrascht.
"Freue dich nur nicht zu früh", sagte Shakara spöttisch. "Wir werden uns wiedersehen, darauf kannst du dich verlassen, auch wenn es einige Zeit dauern mag."
Damit ging sie, und Rhiannon sah ihr nachdenklich hinterher. Ria wusste noch immer nicht, weshalb Shakara eigentlich bei den Anla'Shok gedient hatte, obwohl sie keine von ihnen war.
Es schien so, als hätte jeder etwas anderes über Shakaras Anwesenheit bei der Truppe gehört. Aber die einzigen Leute, die darüber Bescheid wussten hüllten sich in Schweigen.
"Was war das denn?" fragte William Rhiannon so leise, dass nur sie es hören konnte und brachte sie damit wieder in die Gegenwart zurück.
"Nichts", brummte sie und winkte ab.
"Komm jetzt bitte, William", sagte Sech Turval gütig. "Ich werde dich den anderen vorstellen. Dann können wir auch gleich über einige wichtige Dinge sprechen."
Will sah ein wenig verunsichert zu seiner Frau. "Na gut. Kommst du mit, Ria?"
"Tut mir Leid, aber das geht nicht", antwortete Turval für sie. "Ria kann während deiner Ausbildung nicht bei dir sein. Verwandte werden fast immer voneinander getrennt, damit sie nicht abgelenkt sind. Du wirst Ria in den nächsten Monaten nur beim Essen, in den Pausen und vielleicht am Abend nach dem Training sehen, so sind die Regeln."
"Das ist hart..."
"Wenn Ria keine Anla'Shok wäre, könntest du sie sogar noch seltener sehen, nur in den Trainingspausen", entgegnete Turval gelassen. "Das geht allen Neulingen so."
"Na gut." Will war vom Kampf immer noch heiß. Er schob die Ärmel nach oben. Er verzog das Gesicht als er sah, das er an den Armen überall blaue Flecken hatte.
Die beiden Männer verließen Turvals Büro nun. Rhiannon begleitete sie hinaus, blieb vor der Türe aber allein zurück.
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Sie konnte es nicht ändern. Ihr war einfach mulmig bei dem Gedanken zumute, dass Will bald ebenfalls zu den Anla'Shok gehören würde. Denn daran, dass er die Ausbildung schaffte hatte sie überhaupt keinen Zweifel.


Fortsetzung: Kapitel 13


Jennifer Fausek
30.10.2002
Website von Jennifer Fausek

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