Rhiannons Geschichte (2. Band): 14. Kapitel
(von Jennifer Fausek)
Die letzten Tage waren sehr hektisch gewesen. Noch vor einer Woche war Jeffrey Sinclair der Kommandant von Babylon 5 gewesen.
Aber innerhalb nur weniger Stunden hatte sich alles grundlegend geändert.
Ihm war befohlen worden, so schnell wie möglich seine Sachen zu packen und auf der Stelle zur Erde zu fliegen.
Doch auf der Erde war er auch kaum eine Stunde gewesen, gerade mal genug Zeit, um nach den dienstlichen Besprechungen ein paar Dinge zu kaufen und sich von seinen Verwandten und Freunden zu verabschieden.
Noch während er auf dem Weg zur Erde gewesen war, hatte die Regierung der Erde beschlossen, ihn als Botschafter der Erdallianz nach Minbar zu schicken.
Das ganze war die Idee der Minbari gewesen. Der Vorschlag, ihn als Vertreter der Menschen nach Minbar zu schicken war - wider Erwarten - sofort angenommen worden.
Er war der erste Botschafter der Erdallianz beim früheren Todfeind überhaupt. Offenbar schien es also auch auf der Erde Leute zu geben, die froh waren, ihn auf diese Weise loszuwerden.
Sinclair war von der Aussicht, dass er nun bald Botschafter auf Minbar sein würde alles andere als begeistert. Ausgerechnet jetzt, wo er auf Babylon 5 dringend gebraucht wurde, hatte er weggehen müssen.
Sein bester Freund Michael Garibaldi lag schwer verletzt im Med-Lab, und niemand wusste, ob er überleben oder ob er sterben würde. Und dazu kam, dass die Leute, die für diesen Mordanschlag verantwortlich waren, noch immer nicht gefasst worden waren.
Außerdem hatte Sinclair auch keine Zeit mehr gehabt, seiner Verlobten Cathrene Sakai eine Nachricht zu hinterlassen oder sie anzurufen. So wusste sie nicht, wohin er jetzt unterwegs war.
Und es gab noch eine Kleinigkeit.
In den letzten paar Monaten war es ihm plötzlich doch gelungen, sich wenigstens wieder teilweise an die letzten vierundzwanzig Stunden des schrecklichen Krieges zwischen der Erde und Minbar zu erinnern.
Zehn Jahre lang hatte da ein schwarzes Loch geklafft, aber jetzt sah er es überdeutlich vor sich, vor allem im Traum...
Der Krieg war längst verloren, aber so durfte es nicht enden. Sinclair steuerte sein Schiff direkt auf Kollisionskurs mit dem riesigen minbarischen Kreuzer zu.
"Oh nein, so nicht!" schrie er, und es war ihm egal, dass sie ihn nicht hören konnten. "Ich werde euch Bastarde in den Tod mitnehmen!"
Er flog seinen Kampfflieger weiterhin mit voller Geschwindigkeit auf das feindliche Schiff zu.
Doch irgendetwas lief schief.
Der minbarische Kreuzer drehte sich wie ein lebendes Wesen in seine Richtung. Hinter dem Minbari-Schiff kam ein weiterer Kreuzer zum Vorschein.
Es war ein Schlachtschiff der Vorlonen.
Etwas erfasste sein Schiff...
Metallene Stricke schnitten sich in seine Haut, mit denen er an ein dreieckiges Etwas aus Metall gefesselt war.
Der kavernenartige Raum war vollkommen dunkel, abgesehen von einem fahlen Lichtstrahl, der auf ihn gerichtet war.
Wie lange war er jetzt schon in der Hand dieser Kreaturen? Stunden? Tage? Er wusste es einfach nicht. Aber er konnte die verhüllten humanoiden Wesen in seiner Nähe spüren.
Einmal kam eine der vermummten Gestalten zu ihm und hielt ihm ein dreieckiges Objekt mit einem Stein in der Mitte vor den Körper.
Es war ein Triluminary.
Der Stein begann zu glühen.
"Wer seid ihr?" Sinclair schaffte es, diese Worte trotz schier unerträglicher Schmerzen hervorzubringen. "Wieso tut ihr das?"
Er versuchte mit aller Kraft unter die Kapuze zu schauen um zu sehen, wer da vor ihm stand, allerdings ohne Erfolg.
"Dein Geist", sagte die Stimme unter der Kapuze in unbeholfenem, aber doch verständlichen Erdstandard. "Er ist einer der unseren."
"Nein!"
Sinclair wehrte sich gegen die Stricke, die sich so aber nur noch tiefer in die Haut einschnitten. Er konnte fühlen, wie Blut an seinen Armen und Beinen hinab rann, bevor es schließlich dunkel um ihn herum wurde, als gnädige Bewusstlosigkeit ihn einhüllte...
Sinclair schüttelte den Kopf leicht, um die Erinnerung zu verscheuchen. Etwa zehn Jahre lang hatte er gar nicht gewusst, dass ihm überhaupt Erinnerungen fehlten.
Er hatte immer angenommen, dass er die ganzen vierundzwanzig Stunden bewusstlos gewesen war, bevor er im Krankenhaus endlich wieder zu sich gekommen war.
Bis er dann auf Babylon 5 auf mysteriöse Weise nach und nach mit seiner Vergangenheit konfrontiert worden war.
Alles hatte damit begonnen, dass ein minbarischer Krieger ihm gesagt hatte, er, Sinclair, habe ein Loch in seinen Gedanken.
Doch nun war der Minbari tot. Er hatte sich selbst getötet.
Alles weitere konnte sich Sinclair nicht genau erklären.
Durch die Vorkommnisse der letzten Zeit war die telepathische Blockade, die die Minbari errichtet hatten, offenbar immer mehr zerbröckelt.
Sie hatten sie errichtet bevor sie ihn zurück geschickt hatten, damit er sich an nichts erinnern konnte. Und doch konnte er manche Dinge jetzt ganz klar sehen.
Bei dem ganzen stellte sich nun eine wichtige Frage: Warum hatten die Minbari ihn eigentlich wieder gehen lassen und ihn nicht einfach getötet wie so viele andere Menschen auch?
Sinclair schauderte leicht. Und jetzt war er tatsächlich auf dem Weg nach Minbar. Doch dann rief er sich ins Gedächtnis zurück, dass er aus freien Stücken dorthin flog und nicht dazu gezwungen wurde. Er hätte den Botschaftertitel auch ablehnen können ...
Wann immer Rhiannon in Ruhe nachdenken oder mal für eine Weile alleine sein wollte, zog sie sich gerne in den Tempel oder auch auf das Dach der Baracke, in der sie ihr Zimmer hatte zurück. Und in letzter Zeit war sie besonders häufig allein.
Ihre Tochter hatte sie schon eine Woche lang nicht mehr zum Lager der Anla'Shok mitgenommen, sondern sie in Nistels Obhut gelassen.
Ria versuchte vergeblich in der kleinen Gebetshalle zu meditieren, als Satai Rathenn mit schnellen Schritten zu ihr gelaufen kam.
"Endlich habe ich dich gefunden", sagte er ein wenig außer Atem. "Ich habe dich schon überall gesucht. Der Gewählte möchte dich sehen."
Rhiannon hob in milder Überraschung die Augenbrauen. Wenn ein Mitglied des Grauen Rates höchstpersönlich ihr diese Nachricht überbrachte, musste es wirklich wichtig sein.
"So? Und weswegen?"
"Das soll er dir selber sagen."
"Ich komme schon."
Ria erhob sich und folgte Rathenn zu dem einzelnen abseits stehenden Gebäude, das die meiste Zeit über ungenutzt war.
Obwohl Rhiannon nun schon seit drei Jahren bei den Anla`shok war, hatte sie dieses Haus noch nie zuvor betreten, denn es war eigentlich für das Oberhaupt der Truppe bestimmt.
Im Inneren sah das Gebäude nicht viel anders aus, als alle anderen Häuser auch, nur dass in den breiten Gängen im Moment Wachen standen, da der Gewählte anwesend war. Sie gehörten zu einer Art Leibgarde für das Oberhaupt der Anla`shok.
In besseren Zeiten hatte die Garde etwa hundert Leute umfasst. Jetzt waren es nur noch zehn, die zur Elite innerhalb der Anla`shok gehörten.
Wie die Tradition es verlangte, wurde Rhiannon zuerst angekündigt, bevor sie unbewaffnet und allein zu Satai Jenimer ging. Rathenn und die Wachen warteten inzwischen draußen.
Als sich die Tür hinter ihr schloss, verneigte Ria sich tief vor dem gewählten Anführer des Grauen Rates und wartete höflich ab.
"Bitte komm zu mir, und setz ich doch", sagte Jenimer freundlich und deutete auf ein Kissen, das ihm am niederen Tisch schräg gegenüber lag.
Rhiannon entspannte sich, als sie Platz nahm. "Vielen Dank, Gewählter."
"Du hast sicher schon gehört, dass ein Mann namens Jeffrey Sinclair künftig als Botschafter die Erdallianz hier vertreten wird."
"O ja", erwiderte sie in neutralem Tonfall. "Mein Mann, Will, ist ganz begeistert davon. Er verehrt Sinclair als Held. Wann will er eigentlich hier eintreffen? In zwei Tagen?"
Jenimer nickte. "Richtig. Übermorgen Nachmittag."
"Naja, schön und gut", sagte Ria ein wenig verwundert. "Aber was hat das alles eigentlich mit mir zu tun? Sie erzählen mir das doch nicht nur einfach so ohne Grund."
"Stimmt." Der Gewählte lächelte. "Ich habe dich hergebeten, weil ich möchte, dass du Sinclairs Attaché wirst."
Rhiannon starrte ihn ungläubig an. "Wie bitte?"
"Ich habe beschlossen, dass du dem Botschafter zur Seite stehen wirst", entgegnete Jenimer gelassen. "Jedenfalls für gewisse Zeit."
"Gewählter, ich bin eine Anla`shok und keine Geistliche..."
"Das spielt in dem Fall keine Rolle. Immerhin hast du auch mit Delenn gearbeitet. Du kennst die Pflichten einer Assistentin gut genug", antwortete er ungerührt. "Du bist die perfekte Wahl für die Aufgabe."
Ria seufzte ungeduldig. "Wieso? So etwas ist doch normalerweise keine Aufgabe für eine Kriegerin, sondern für einen Gelehrten."
Sie klang nun beinahe flehend. "Bitte suchen Sie jemand anders für diesen Job. Wenn ich ein Attaché bin, kann ich nicht mehr auf ,Tour' gehen. Fragen Sie doch Will. Er würde sich sehr freuen, wenn er für Sinclair arbeiten dürfte..."
"Genau aus dem Grund ist er als Attaché ungeeignet", sagte Jenimer. "Er wäre zu übereifrig. Und er ist ja auch noch in der Ausbildung."
Er sah sie streng an. "Und für dich wäre es sowieso besser, wenn du nicht so oft unterwegs wärst. Es ist nicht gut, dass du so viele Alleingänge unternimmst."
Sie wollte sich verteidigen, aber er hob die Hand und schnitt ihr damit das Wort ab. "Diesmal ist unbedingt ein Anla`shok für diese Aufgabe nötig."
"Und warum?" fragte Ria und runzelte verwundert die Stirn.
"Weil uns Botschafter Sinclair im Kampf gegen die Schatten helfen wird. Er hat ein besondere Aufgabe zu erfüllen."
"Welche Aufgabe?"
"Ich will es dir erklären..."
Als Jenimer geendet hatte, schüttelte Rhiannon ungläubig den Kopf und lachte hilflos.
"Ich bin ja schon mal gespannt, wie Sie Sinclair das beibringen wollen. Und der Kriegerkaste. Sie werden mit Sicherheit nicht sehr begeistert davon sein und - auf die Gefahr hin den Gewählten zu verärgern - ich auch nicht.
Sinclair ist ein ausgebrannter Soldat, der zum Held gemacht worden ist. Er ist müde und verbraucht. Er wird mit dieser ungeheuren Verantwortung niemals fertig werden."
"Ich glaube, du irrst dich", widersprach Jenimer. "Sinclair ist ein erfahrener Kommandant. Er wird seine Aufgabe bestimmt meistern, mit etwas Hilfe und viel Geduld. Und dass wir uns richtig verstehen: Dass du Sinclair als Attaché zur Seite stehen sollst ist keine Bitte sondern ein Befehl."
"Verstanden." Rias Gesicht war ausdruckslos.
Jenimer nickte zufrieden. "Du wirst nicht alleine sein. Rathenn wird auch noch da sein. Er wird Sinclair vorbereiten und einweihen."
Rhiannon seufzte erleichtert. "Gut, das macht die Sache etwas einfacher." Sie neigte den Kopf ein wenig. "Und Sie können sich darauf verlassen, dass ich Sinclair nach bestem Wissen und Gewissen helfen werde, wo ich nur kann."
"Das weiß ich." Jenimer lächelte freundlich. "Du kannst jetzt gehen."
Das war für Ria das Zeichen, dass das Gespräch nun endgültig beendet war. Sie stand auf, verneigte sich zum Abschied noch einmal tief und verließ den Raum.
Fortsetzung: Kapitel 15
Jennifer Fausek
30.10.2002
Website von Jennifer Fausek
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