Rhiannons Geschichte (2. Band): 47. Kapitel
(von Jennifer Fausek)
Ein letztes Mal sah sich Marcus Cole im Lager der Anla'Shok um. Das alles würde er in wenigen Stunden hinter sich lassen, denn er hatte nun seinen Auftrag bekommen.
Mit einer kleinen Gruppe Rangers würde er nach Zargos VII, einer Kolonie der Drazi, aufbrechen, um dort einen Posten aufzubauen.
Vor einer Stunde hatte sich Marcus von Sinclair verabschiedet und dabei lange mit ihm geredet, wie es sonst nur alte Freunde taten.
Vorallem über Verlust. Marcus wusste, unter den Anla'Shok gab es niemanden, der nicht wenigstes einen schmerzlichen Verlust erlitten hatte.
Ganz deutlich erinnerte er sich daran, wie Rhiannon Shive gesessen hatte und so sich erlaubte, ihren Schmerz über Williams Tod zu verarbeiten.
Marcus selbst hatte es abgelehnt, mit den anderen zu Trauern. Mit dem Verlust seines Bruders wollte er ganz allein fertig werden. Er duldete es nicht, dass sich da jemand einmischte.
Marcus ging in die momentan leere Meditationsklasse und musste unwillkürlich lächeln, als er sich an die Lektionen erinnerte, die er hier bekommen hatte und die er damals als so verwirrend empfunden hatte.
Er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf eines der weißen Podeste, und er kam sich mit einem Mal wieder wie ein Schüler vor.
Wie lange hatte er gebraucht um den Nutzen von Meditation zu verstehen und zu lernen sie zu genießen?
"Sieh an!" erklang plötzlich Sech Turvals Stimme. "Das ist so ziemlich der letzte Ort an dem ich dich erwartet hätte."
Marcus lachte verlegten und stand auf. "Wollten Sie mich sprechen, Meister?"
"In der Tat." Turval kam mit raschen energischen Schritten näher. "Ich wollte dir noch ein Geschenk geben, bevor du abfliegst."
Er zog einen kleinen, metallenen Zylinder aus seinem Umhang hervor und überreichte ihn seinem Schüler.
Marcus wusste sofort, um was es sich dabei handelte. Es war ein Denn'bok, ein minbarischer Kampfstab. Wie es aussah, war er schon alt.
Mit echter Ehrfurcht berührte Marcus den Druckpunkt, und das Denn'bok glitt geschmeidig zu seiner vollen Größe auseinander.
"Das ist wirklich sehr... großzügig", brachte er schließlich hervor.
"Du hast es dir verdient", meinte Turval. "Du hast dich wirklich angestrengt. Ich bin mir sicher, du wirst es gut brauchen können."
Marcus faltete das Denn'bok und verneigte sich. "Vielen Dank, Meister. Sie machen mir damit eine große Freude. Ich werde es immer in Ehren halten."
Turval lächelte gerührt. "Das habe ich gehofft."
"Warum geben Sie gerade mir dieses Denn'bok?" fragte Marcus, während er den Kampfstab wegsteckte.
"Du hast dich in meiner Klasse sehr schwer getan..." Turval legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. "Deshalb bin ich sehr froh, dass du viel gelernt hast. Du hast mir zum Schluss sehr viel Freude bereitet. Ich hoffe, du vergisst mich nicht."
"Das werde ich bestimmt nicht." Marcus verneigte sich leicht.
"Wohin wirst du geschickt?" fragte Turval.
"Nach Zargos VII", entgegnete Marcus. "Zu den Drazi."
Der alte Lehrer nickte zufrieden. "Du wirst bestimmt Gefallen an ihnen finden. Sie sind zwar ein einfaches, aber tüchtiges Volk."
Marcus lächelte. "Ich weiß. Ich erinnere mich an die Lektionen über die verschiedenen Völker und deren Kultur."
"Das denke ich mir." Turval schmunzelte und segnete ihn. "Ich wünsche dir viel Glück und Erfolg für die Mission."
"Vielen Dank, Meister." Marcus verneigte sich.
Die Anla'Shok setzten ihre Arbeit fort. Sinclair hatte eingewilligt, die Rangers auch weiterhin zu führen, so, wie er es versprochen hatte.
Allerdings lehnte er es ab, Ulkesh, den Botschafter der Vorlonen zu treffen, es sei denn, es ließ sich wirklich nicht vermeiden.
Statt dessen verhandelte Entil'zha nur noch mit Satai Rathenn, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab.
Sinclair überließ es Rhiannon, sich mit Ulkesh zu treffen, wenn sie sich gerade auf Minbar aufhielt, oder auch Venak. Ria flog jetzt nämlich immer wieder kurze Erkundungsflüge und sprang ein, wo immer ihre Hilfe gebraucht wurde.
Inzwischen erwies sich der grausame Konflikt zwischen den Centauri und den Narn für die Narn als äußerst fatal. Sie wurden trotz ihres erbitterten Widerstands an allen Fronten vernichtend geschlagen und demoralisiert.
Niemand konnte sich erklären, woher die Centauri plötzlich die Stärke hernahmen, um die Narn dermaßen brutal zu unterwerfen.
Nachdem sich die Narn vor einigen Jahrzehnten gewaltsam aus einem Jahrhundert centaurischer Knechtschaft befreit hatten, waren sie selbst innerhalb nur weniger Jahre zu Eroberern und einer bedeutenden Macht geworden.
Der Verdacht erhärtete sich, dass die Centauri womöglich Hilfe von den Schatten bekommen hatten, um diesen Krieg gewinnen zu können. Nur fehlte dafür jeder Beweis.
"Es ist unsere Pflicht den Narn zu helfen." Rhiannon sprach diese Worte mit deutlichem Nachdruck. "Im Gegensatz zu den Centauri stehen sie auf unsrer Seite. Falls noch etwas von ihnen übrig ist, wenn die Centauri mit ihnen fertig sind."
"Du meinst wohl, sie stehen auf der Seite der Menschen", entgegnete Neroon kalt. Er saß als Vertreter des Grauen Rates im Auditoriums.
Allerdings trug er normale Kleidung und nicht die graue Kutte mit der Kapuze. "Wir wissen sehr genau, dass sie euch während des Krieges zwischen der Erde und Minbar Waffen geliefert haben. Und uns ist auch bekannt, dass sich damals viele Menschen bei ihnen verkrochen haben."
"Das tut hier nichts zur Sache", brummte Ria.
"Aber es tut sehr wohl zur Sache, dass wir uns an die Schatten verraten, wenn wir den Narn helfen", konterte Neroon. "Und das darf nicht geschehen."
"Also schlagen Sie vor, dass wir die Narn einfach sterben lassen und nichts gegen die Centauri unternehmen?" fragte Rhiannon bitter und sah dabei zu Ulkesh, der sich immer noch regungslos im Hintergrund hielt.
"Was schlägst du vor, sollen wir statt dessen tun?" fragte jemand aus dem Ältestenrat. "Die Centauri vernichten um die Narn zu retten?"
"Nein." Rhiannons Finger umschlossen die Brüstung des Geländers, das die Sitzreihen des Grauen Rats und des Ältestenrates von der Mitte des Auditoriums trennte.
"Ich schlage vor, dass wir die Centauri aus den Gebieten der Narn zurückschlagen, so dass sie es nicht wagen, die Narn noch einmal anzugreifen."
"Die Diskussion ist beendet", erklärte ein Mitglied aus dem Ältestenrat. "Wir können nichts für die Narn tun."
"Es ist wahr", fügte Satai Rathenn hinzu. "Es geht nicht."
Die Kastenältesten standen auf und gingen in absoluter Stille. Neroon folgte ihnen.
Rathenn kam zusammen mit Ulkesh zu Rhiannon. Sie hatte resigniert den Kopf gesenkt und blickte finster zu Boden.
"Es tut mir Leid..." begann Rathenn.
Rhiannon sah auf.
"Könnt ihr oder wollt ihr nichts unternehmen?" unterbrach sie ihn leicht ungehalten.
"Die Vorlonen denken, es wäre nicht gut, wenn wir uns einmischen würden."
"Ach tatsächlich?" Ria verschränkte die Arme und musterte Ulkesh durchdringend. "Nennen Sie mir einen triftigen Grund."
Die Angelegenheiten anderer sind uns gleichgültig..
"Gleichgültig?" grollte Rhiannon und zeigte mit dem Finger auf den Vorlonen, als wolle sie ihn durchbohren. "Sie reden hier davon, einen Völkermord einfach hinzunehmen." Sie schnaubte verächtlich. "Wir sind nicht besser als die Schatten."
Sie kam so dicht an ihn, dass sie ihn praktisch berühren konnte. "Ich schwöre Ihnen, ich werde nicht zulassen, dass Sie ungeschoren davonkommen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie die Konsequenzen dafür tragen."
Mit einem Mal traf ein heftiger Energiestoß Rhiannon mit Wucht im Gesicht, und sie wurde zu Boden geschleudert. Sie fühlte, dass ihre linke Wange blutete.
Langsam stand Ria wieder auf. Sie wirkte jetzt fast hoheitsvoll, trotz dieser nicht sehr vorteilhaften Verletzung und der zerzausten Haare.
"Jetzt haben Sie eben Ihr wahres Gesicht gezeigt, Botschafter", sagte sie mit absoluter Ruhe. "Und das werden Sie auf Dauer nicht verbergen können."
Damit ging sie in würdevoller Haltung davon.
Nach dieser ermüdenden Debatte ging Rhiannon erst einmal zu Entil'zha, um ihm Bericht zu erstatten. Sie fand ihn schließlich in dem kleinen Garten der Tempelanlage. Er saß auf einer Decke im Gras und las gerade.
Als er bemerkte, dass Ria zu ihm kam, klappte er das Buch sofort zu und legte es beiseite. Er bat sie mit einer Geste, sich zu setzen.
"Wie ist es gelaufen?" fragte Sinclair mit gleichmäßiger Stimme, als sich Ria rechts von ihm niederließ.
"Wie Sie schon vermutet haben", antwortete sie, und sie sah dabei nicht ihn, sondern die bunten Blumen im Park an. "Sie wollen den Narn nicht helfen."
Sinclair oder Entil'zha, wie er von den Rangers genannt wurde, begutachtete die Schramme an Rhiannons Wange. Es hatte inzwischen aufgehört zu bluten.
"Wer war das? Ulkesh?"
Ria nickte, ohne ihn anzusehen. "Woher wissen Sie das?"
Sinclair zuckte die Schultern. "Ich wusste es nicht. Es war nur so ein Gefühl. Wie ist das genau passiert?"
"Ich habe Ulkesh absichtlich provoziert." Sie seufzte. "Ich fürchte, ich habe damit einen dummen Fehler gemacht. Ulkesh weiß jetzt mit absoluter Sicherheit, dass ich ihn beobachte."
"Glaubst du, dass er dir etwas antun will?"
Rhiannon dachte kurz nach. "Ich denke nicht, dass er etwas gegen mich unternimmt. Ich bin für ihn viel zu unbedeutend. Ich kann ihm nicht wirklich Schaden zufügen."
"Sei trotzdem auf der Hut", warnte Sinclair sie. "Wir wissen nicht, was die Vorlonen als nächstes vorhaben."
"Ich werde den Vorlonen ganz sicher nicht den Rücken zudrehen", brummte Rhiannon. "Zumindest Ulkesh nicht. Inwiefern Kosh vertrauenswürdig ist, müssen wir noch sehen."
Sinclair lächelte dünn. "Und jetzt geh in der Krankenstation und lass deine Verletzung behandeln, sonst bleibt noch eine hässliche Narbe zurück."
Das erste Mal seit Beginn dieses Gespräches sah Rhiannon Entil'zha nun direkt an und betrachtete die rötliche Narbe an seiner Schläfe.
"Ich bin hier nicht die einzige, die Narben davongetragen hat", bemerkte sie sanft.
"Lass die Diskussion." Sinclair runzelte die Stirn. "Geh in die Krankenstation, und lass dich behandeln. Das ist ein Befehl."
Rhiannon stand auf und verneigte sich. "Wie Sie wollen Entil'zha. Ich werde gehorchen. Ich wollte auf keinen Fall..."
"Schon gut", unterbrach Sinclair sie. "Ich nehme dir nichts übel. Aber es gibt Dinge, die mache ich lieber mit mir selbst aus."
"Natürlich." Sie verneigte sich erneut und ließ ihn alleine."
Fortsetzung: Kapitel 48
Jennifer Fausek
30.10.2002
Website von Jennifer Fausek
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